Wie weiter in Afghanistan? Bilanz und Perspektiven nach einem Jahr Strategiewechsel

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Wie weiter in Afghanistan? Bilanz und Perspektiven nach einem Jahr Strategiewechsel

von redaktion am 11.01.2011 16:21




Wie weiter in Afghanistan? Bilanz und Perspektiven nach einem Jahr Strategiewechsel



Der Parteivorstand der SPD hat im Rahmen der SPD-Jahresauftaktklausur in Potsdam einstimmig folgenden Beschluss gefasst:


I. Ausbildung, Aufbau, Aussöhnung - unser Konzept für Afghanistan

Seit Anfang 2002 ist Deutschland im Rahmen internationaler Missionen und auf der Grundlage von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates in Afghanistan engagiert. Die Bundeswehr erfüllt seit mittlerweile neun Jahren ihren Auftrag in Afghanistan, der Deutsche Bundestag hat den Einsatz seither jedes Jahr mit breiter Mehrheit mandatiert.

45 deutsche Soldaten haben in Afghanistan ihr Leben verloren, viele wurden zum Teil schwer verletzt oder leiden erheblich unter den psychischen Belastungen, die mit dem Einsatz verbunden sind. Tausende zivile Helfer riskieren jeden Tag ihr Leben, um Afghanistan zu einer besseren Zukunft zu verhelfen. Sie alle, aber auch die Menschen in Deutschland insgesamt, haben einen Anspruch darauf zu erfahren, wie das internationale Engagement in Afghanistan zu einem nachhaltigen Erfolg geführt werden kann und wie
lange der militärische Einsatz in Afghanistan noch dauern wird.

Über viele Jahre hat die SPD in unterschiedlichen Regierungsbündnissen Verantwortung für das deutsche Afghanistan-Engagement getragen. Zu dieser Verantwortung stehen wir auch als größte Oppositionspartei. Zu Beginn des Jahres 2010 haben wir in intensiven Beratungen innerhalb unserer Partei, in öffentlichen Konferenzen überall im Land, in zahllosen Gesprächen mit Experten aus dem In- und Ausland, mit Soldatinnen und Soldaten, zivilen Hilfsorganisationen und Vertretern der afghanischen Regierung und
Zivilgesellschaft ein Konzept für die Neuausrichtung des deutschen Afghanistan-Engagements mit folgenden Kernpunkten entwickelt:

• Entschiedene Steigerung der Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau und Verdopplung der
entsprechenden Haushaltsmittel,
• Verstärkung der Ausbildung der afghanischen Polizei und Armee, Neuausrichtung des deutschen
ISAF-Kontingents auf diese Aufgabe und deutliche Erhöhung der Zahl der Polizeiausbilder,
• Intensivierung der Bemühungen um eine politische Lösung des Konfliktes, Unterstützung der
innerafghanischen Aussöhnung und Entwicklung konkreter Initiativen zur regionalen Stabilisierung der
Lage,
• keine weiteren Kampftruppen, stattdessen – aufbauend auf Fortschritten beim zivilen Wiederaufbau und
bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte – Beginn der Übergabe beruhigter Zonen in
afghanische Verantwortung,
• Übergabe der vollen Verantwortung für die Sicherheit im Land an die afghanischen Sicherheitskräfte bis
2014 gemäß dem von Präsident Karzai selbst gesetzten Ziel,
• Beginn der Reduzierung des deutschen ISAF-Kontingents in 2011, analog zur Ankündigung des
amerikanischen Präsidenten Obama, und Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen von ISAF im
Korridor 2013 bis 2015.

II. Internationaler Konsens: Abzug in Verantwortung

Mit unserer Position haben wir die neue deutsche Afghanistan-Politik maßgeblich geprägt. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Ende Januar 2010 vorgelegten neuen Afghanistan-Konzept und in ihrem Antrag zur Verlängerung der deutschen Beteiligung an ISAF die meisten unserer Forderungen zu eigen gemacht.

Der vom Bundestag mit breiter Mehrheit vollzogene und bei der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2010 auch auf internationaler Ebene eingeleitete Strategiewechsel hat ein neues Momentum für das internationale Afghanistan-Engagement erbracht. Es gibt einen inzwischen breit getragenen internationalen Konsens, den militärischen Kampfeinsatz in einem überschaubaren Zeitraum bis zum Jahr 2014 zum Ende zu führen und alle erforderlichen Mittel und Instrumente zu aktivieren, um dies zu erreichen.
Wir fühlen uns durch die internationale Entwicklung in unserer Position bestätigt. Es besteht eine realistische Chance, den seit neun Jahren andauernden Einsatz der Bundeswehr auf verantwortungsvolle Weise und in Abstimmung mit den internationalen Partnern in absehbarer Zeit zu beenden. Voraussetzung ist, dass beim Strategiewechsel Kurs gehalten wird. Das militärische Engagement muss schrittweise in den Hintergrund rücken, der Wiederaufbau, die wirtschaftliche Entwicklung und eine nachhaltige politische
Regelung des Konfliktes müssen noch stärker in den Mittelpunkt der internationalen Bemühungen gestellt werden; die gewählte afghanische Regierung muss hier ihrer politischen Verantwortung gerecht werden.

III. Licht am Ende des Tunnels? Bilanz des letzten Jahres

Im Zuge der Entscheidung über die Verlängerung des ISAF-Mandates im Februar letzten Jahres haben wir die Bundesregierung aufgefordert, die Folgen und Wirkungen des Strategiewechsels einer unabhängigen wissenschaftlichen Evaluation zu unterziehen.

Die Bundesregierung hat unseren hierzu ins Plenum des Bundestages eingebrachten Antrag nicht unterstützt, allerdings Ende 2010 einen ausführlichen Fortschrittsbericht vorgelegt, dessen Ergebnisse wir bis zur Mandatsentscheidung Ende Januar sorgfältig prüfen werden. Eine umfassende Evaluierung des Einsatzes unter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise ist von der Bundesregierung für Mitte 2011 angekündigt.

Eine unabhängige und umfassende Analyse der Erfolge und Misserfolge des Strategiewechsels steht damit noch aus. Dennoch ist erkennbar, dass es in den vergangenen Monaten einige substantielle Veränderungen gegeben hat und die Weichen neu gestellt wurden. Die Bilanz der vergangenen Monate weist noch immer Licht und Schatten auf.

Das internationale Umfeld: Bei der Londoner Konferenz am 28. Januar 2010 haben sich die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf einen gemeinsamen Fahrplan für das weitere Vorgehen bei der Befriedung und dem Wiederaufbau Afghanistans verständigt und erstmals einen klaren Zeithorizont für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände benannt. Die Kabul-Konferenz im Juli 2010 hat die in London beschlossenen Vorgaben mit konkreten Programmen und Zeitplänen unter
anderem für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes, für die Verbesserung der Regierungsführung, die Bekämpfung von Korruption und Drogenkriminalität sowie den Prozess der innerafghanischen Aussöhnung unterlegt. Der NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 schließlich hat klare zeitliche Vorgaben für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung gesetzt, die in 2011 begonnen wird und bis zum Jahr 2014 abgeschlossen sein soll.

Mit diesen drei Konferenzen ist der Rahmen für das weitere Engagement der internationalen Gemeinschaft abgesteckt und die Selbstverpflichtungen der afghanischen Regierung erstmals mit konkreten Aktionsplänen verbunden worden, die es ermöglichen, in Zukunft sehr präzise Fortschritte und Defizite zu identifizieren.

Entwicklung der Sicherheitslage: Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor kritisch. Die Zahl der sogenannten „sicherheitsrelevanten Zwischenfälle“ hat sich gegenüber dem Vorjahr noch einmal deutlich erhöht. Die Zunahme ist nicht zuletzt auf die vorübergehende Aufstockung der ISAF-Truppen auf jetzt insgesamt rund 140.000 Soldaten zurückzuführen, die dem Ziel dient, Taliban und andere Aufständische zurückzudrängen. Dies scheint in den vergangenen Monaten tatsächlich gelungen.
Allerdings kommt es jetzt darauf an, sich nicht allein auf militärische Operationen zu konzentrieren, sondern die erzielten Teilerfolge durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen so abzusichern, dass die Bevölkerung in den Gebieten, in denen die Taliban zurückgedrängt wurden, Vertrauen in die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung bekommt. Nur dann wird der eingeschlagene Weg am Ende auch erfolgreich sein. Der Erfolg hängt auch davon ab, ob die afghanische Armee bereits zahlenmäßig und qualitativ in
der Lage ist, für Sicherheit in den betroffenen Gebieten zu sorgen. Im Frühjahr 2011 wird sich zeigen, ob und wie weit das bereits der Fall ist.

Nach wie vor konzentriert sich die überwiegende Anzahl der Anschläge und Gefechte vor allem auf den Süden und Osten des Landes. Aber auch in der Nordregion, die durch die veränderten Transportwege von ISAF an strategischer Bedeutung gewonnen hat, ist die Sicherheitslage in einzelnen Gebieten nach wie vor kritisch.

Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte: Die Ausbildung der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) steht im Fokus der neuen Strategie. Die Umstrukturierung des deutschen ISAF-Kontingents und die Aufstellung zweier sogenannter Ausbildungs- und Schutzbataillone war ein wesentlicher Kern der Neuausrichtung des Afghanistan-Einsatzes auch der Bundeswehr. Die Umstrukturierung hat erhebliche Zeit in Anspruch genommen. Erst im Herbst letzten Jahres ist es gelungen, die
Einsatzbereitschaft des zweiten Ausbildungs- und Schutzbataillons herzustellen. Die Zahl der Ausbilder konnte damit gegenüber 2009 mehr als verfünffacht werden. Erst seit wenigen Wochen hat die Bundeswehr die neue Struktur eingenommen und befindet sich mit knapp 5000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, hat also die zuletzt mandatierte Obergrenze nahezu ausgeschöpft. Die flexible Reserve wurde im bisherigen Mandatszeitraum nicht in Anspruch genommen und offenbar nicht benötigt.

Trotz dieser Verzögerung scheint der Aufbau der afghanischen Armee voranzukommen. Das von der Londoner Konferenz im Januar 2010 gesetzte Ziel von 134.000 Soldaten bis Oktober 2010 ist erreicht, die Zielgröße von 176.000 bis Oktober 2011 kann erreicht werden, wenn die Anstrengungen auf diesem Gebiet nicht nachlassen.

Der Polizeiaufbau weist trotz erzielter Verbesserungen noch immer deutliche Defizite aus. Die Bundesregierung hat zwar, wie von uns gefordert, die Zahl der Polizeiausbilder im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit und bei der EU-Mission EUPOL deutlich erhöht. Allerdings hat die Bundesregierung noch immer nicht die bei der Londoner Konferenz avisierte Größenordnung von 60 Polizisten für EUPOL bereitstellen können. Das von der internationalen Gemeinschaft gesetzte Ziel von rund 100.000 Polizisten bis zum
Herbst 2010 konnte zwar erreicht werden, allerdings haben viele Anwärter nur eine Kurzausbildung erhalten, die ihre Einsatzfähigkeit allenfalls bedingt ermöglicht. Die Zahl der tatsächlich im Einsatz befindlichen Polizisten liegt nach Einschätzung aller Experten deutlich niedriger als die Ausbildungszahlen suggerieren.

Trotz aller erkennbaren Defizite und der Berichte über mangelnde Qualität der Ausbildung und Ausstattung, über mangelnde Verlässlichkeit und grassierende Korruption im Sicherheitssektor scheinen die afghanischen Sicherheitskräfte dennoch allmählich und zunehmend in der Lage zu sein, eigenständig Operationen durchführen zu können.

Ziviler Wiederaufbau: Mit der auf unsere Forderung hin erfolgten Verdopplung der Mittel für den zivilen Wiederaufbau seitens der Bundesregierung und weiteren Hilfszusagen anderer Gebernationen haben sich neue Chancen für eine Beschleunigung der Wiederaufbaubemühungen ergeben. Es war und ist daher besonders fahrlässig und unverantwortlich, dass Entwicklungsminister Niebel die neu gewonnenen Spielräume für den zivilen Wiederaufbau durch die Verknüpfung von Mittelzusagen an NGOs mit deren Bekenntnis zu
einer engen Zusammenarbeit mit der Bundeswehr behindert und mühsam aufgebautes Vertrauen zwischen den Akteuren mutwillig zerstört hat. Viele NGOs mit zum Teil jahrzehntelanger Erfahrung in Afghanistan wurden vor den Kopf gestoßen und haben erklärt, unter diesen Umständen nicht weiter Hilfsgelder des BMZ in Anspruch nehmen zu wollen.
Trotz derartig schädlicher Störmanöver macht der zivile Wiederaufbau insgesamt offensichtliche Fortschritte. Die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans kommt allmählich voran. Der IWF bescheinigt der afghanischen Wirtschaft ein Wachstum von über 20 Prozent im Zeitraum 2009/2010 bei hoher Preisstabilität und stetig wachsenden Staatseinnahmen. Dennoch ist die afghanische Regierung bei Weitem noch nicht in der Lage, die staatlichen Ausgaben aus eigener Kraft zu finanzieren und bleibt auf absehbare
Zeit auf internationale Unterstützung angewiesen.

Afghanische Selbstverpflichtung zu besserer Regierungsführung: Die afghanische Regierung hat bei den internationalen Konferenzen in London und Kabul den Willen und die Bereitschaft erkennen lassen, neben der Sicherheitsverantwortung auch den zivilen Wiederaufbau zunehmend in eigene Regie zu übernehmen. Zugleich hat sie sich zu einer besseren Regierungsführung und der Bekämpfung der extrem hohen Korruption verpflichtet. Diese Selbstverpflichtung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Afghanistan laut
Transparency International nach wie vor als eines der korruptesten Länder der Welt gilt. International setzt sich inzwischen die Erkenntnis durch, dass die Korruption in Afghanistan – neben den Drogenprofiten – auch durch die hohen unkoordinierten internationalen Entwicklungsgelder gefördert wird. Der Grund ist in dem mangelnden Vermögen der afghanischen Verwaltungsstrukturen zu sehen, einen zielgerichteten Mittelabfluss und einen am lokalen Bedarf orientierte Umsetzung der Entwicklungsprojekte zu
gewährleisten. Die schrittweise Übernahme der afghanischen Verantwortung für den Wiederaufbau ist ein legitimes und unterstützungswürdiges Ziel, setzt aber voraus, dass die afghanische Regierung ihre Selbstverpflichtung effektiver umsetzt und konsequenter gegen Patronage-Netzwerke vorgeht. Im gemeinsamen Interesse liegt es, die Autorität der zentralen und regionalen Regierung und Verwaltung dadurch zu stärken, dass die Fähigkeit der staatlichen Verwaltungsstrukturen durch umfassenden
Kapazitätsaufbau erhöht wird. Der Abfluss der zugesagten deutschen Hilfsgelder ist an erkennbaren Fortschritten bei der Umsetzung entsprechender Programme und Aktionspläne zu orientieren.

Die Parlamentswahlen im September letzten Jahres haben deutlich vor Augen geführt, wie es um die Entwicklung eines funktionierenden Staatswesens in Afghanistan steht. Nach Ansicht vieler Beobachter verliefen die Wahlen, die ersten in alleiniger afghanischer Verantwortung, insgesamt positiver als dies nach den durch erhebliche Manipulationen und Unregelmäßigkeiten geprägten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 zu erwarten war. Die Wahlbeteiligung lag unerwartet hoch, über 90 Prozent der Wahllokale
konnten trotz massiver Drohungen und gewaltsamer Störungen durch Aufständische geöffnet werden. Dennoch gab es auch im Zuge der Parlamentswahlen erhebliche Manipulationsversuche, die von der afghanischen Wahlkommission geahndet wurden und auf der Grundlage von rund 6000 Wahlbeschwerden in 27 Fällen zum Entzug des Mandates geführt haben.

Drogenbekämpfung und Korruption: Die Defizite im Bereich der staatlichen Strukturen sind nach wie vor eklatant und stehen einer beschleunigten positiven wirtschaftlichen und politischen Entwicklung im Wege. Der Drogenanbau und –handel und die damit zusammenhängenden schattenwirtschaftlichen und kriminellen Strukturen durchdringen nach Experteneinschätzung weite Teile der Gesellschaft bis hin zur staatlichen Verwaltung. Dabei besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Sicherheitslage und der
Konjunktur der Drogenwirtschaft. Die Nordregion kann heute überwiegend als frei von Mohnanbau gelten, ist aber in zweifacher Weise in die nationale Drogenökonomie eingebunden: in entlegenen Gebieten wird Opium zu Heroin weiterverarbeitet und wichtige Schmuggelrouten verlaufen hier in Richtung Zentralasien und Russland. Dagegen ist der Mohnanbau im Süden und Osten des Landes, trotz insgesamt rückläufiger Tendenzen, nach wie vor für weite Teile der ländlichen Bevölkerung wesentliche Lebensgrundlage
und für die Aufständischen eine zentrale Einnahmequelle.

Politische Lösung, regionale Dimension: Die von uns geforderten intensiveren Bemühungen um eine innerafghanische Aussöhnung scheinen ebenfalls gewisse Fortschritte zu machen. Die von Präsident Karzai Anfang Juni 2010 einberufene Friedens-Jirga mit 1600 Teilnehmern hat die Einrichtung eines Friedens- und Integrationsprogramms gebilligt und einen nationalen Friedensrat eingesetzt, der im Herbst seine Arbeit aufgenommen hat. Beides lässt den Willen der afghanischen Regierung erkennen, die innerafghanische
Aussöhnung voranzutreiben und hieran auch die afghanische Zivilgesellschaft und alle friedenswilligen Kräfte im Land zu beteiligen.

Mit Blick auf die regionale Dimension des Konfliktes hat es in den vergangenen Monaten deutlich zu wenig Initiativen auf höchster politischer Ebene gegeben. Herausragende Bemühungen um eine Verbesserung des afghanisch-pakistanischen Verhältnisses, wie die vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2007 angestoßene G8-Initiative, sucht man vergebens. Auch im Hinblick auf die Einbindung wichtiger Nachbarn wie China, Iran und der zentralasiatischen Staaten und die Einbeziehung einflussreicher
Mächte wie Russland, Indien oder der Türkei ist wenig internationale Initiative zu erkennen. Dabei könnte eine Initiative zu einem regionalen politischen Prozess einen wichtigen Impuls geben. Jedoch ist die Bundesregierung, auch der Außenminister, auf internationalem Parkett nicht sichtbar und bewegt sich viel zu passiv im internationalen Geleitzug. Die Afghanistan-Politik scheint vor allem als Aufgabe des Verteidigungsministeriums begriffen zu werden.

Übergabe der Sicherheitsverantwortung und Abzugsperspektive: Der NATO-Gipfel in Lissabon am 19. und 20. November 2010 hat wichtige Weichen für die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände gestellt. Wie schon im Zehn-Punkte-Plan von Frank-Walter Steinmeier im September 2009 gefordert und im SPD-Positionspapier vom Januar 2010 bekräftigt, soll die Übergabe in einzelnen Regionen und Distrikten Anfang 2011 beginnen.

Nachdem in den letzten Monaten immer mehr ISAF-Partnerstaaten eine Abzugsperspektive für ihre Truppenpräsenz entwickelt haben und sich das von Präsident Karzai genannte Jahr 2014 als konsensfähiges Zieldatum für ein Ende der internationalen Beteiligung an Kampfhandlungen in Afghanistan herauskristallisiert hat, hat sich nunmehr auch die NATO auf dieses Zieldatum verständigt. Der von der SPD genannte Zielkorridor 2013 bis 2015 hat sich damit entgegen teils heftiger Kritik als realistisch und
handlungsleitend auch für andere Partner erwiesen.

IV. Die nächsten Schritte

Der zu Beginn des letzten Jahres vollzogene Strategiewechsel hat die Chancen deutlich erhöht, das internationale Engagement in Afghanistan zum Erfolg zu führen und den ISAF-Einsatz in einem überschaubaren Zeitraum zu Ende zu führen. Dennoch gibt es nach wie vor keinen Anlass zu übertriebenem Optimismus. Die Sicherheitslage ist nach wie vor kritisch. Der zivile Wiederaufbau kommt voran, leidet aber immer noch unter einer wenig effizienten afghanischen Verwaltung auf zentraler und regionaler Ebene und
grassierender Korruption. Die Entwicklung der Wirtschaft, insbesondere der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes, wird durch die Dominanz des Drogenanbaus und –handels in einigen Landesteilen behindert. Der Prozess der innerafghanischen Aussöhnung steht noch am Anfang, die diplomatischen Bemühungen um eine regionale Stabilisierung der Lage müssen dringend intensiviert werden.

Um die noch immer erkennbaren Defizite und Versäumnisse aufzuarbeiten, muss der begonnene Strategiewechsel konsequent fortgeführt und intensiviert werden. Dabei wird es vor allem auf Folgendes ankommen:

• Die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte muss weiter vorangetrieben werden. Mit Blick auf die
bereits erreichten Größenordnungen bei ANA und ANP und mit Blick auf das Ziel, in wenigen Wochen mit
der Übergabe der Sicherheitsverantwortung zu beginnen, sollte der Fokus noch stärker als bislang auf
die Qualität der Ausbildung und Ausstattung gelegt werden.
• Der zivile Wiederaufbau muss mit großer Intensität fortgesetzt werden. Der Fokus muss dabei noch
intensiver auf die Entwicklung der ländlichen Räume und der Landwirtschaft, auf die Unterstützung der
afghanischen Regierung beim Aufbau einer effizienten Verwaltung sowie den Ausbau der Infrastruktur und
des Bildungs- und Gesundheitssektors gelegt werden. Die afghanische Regierung sollte im Interesse einer
selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung insbesondere auch bei der Erschließung des Reichtums an
Bodenschätzen unterstützt werden.
• Voraussetzung für einen effizienten und immer stärker afghanisch geführten zivilen Wiederaufbau sowie
für mehr Qualität und Verlässlichkeit innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte ist ein konsequentes
Vorgehen gegen die noch immer grassierende Korruption im Lande. Die afghanische Regierung muss unter
Beweis stellen, dass sie die nach der Kabuler Konferenz vorgelegten Aktionsprogramme zügig und ohne
Einschränkung umzusetzen bereit und in der Lage ist.
• Der Prozess der innerafghanischen Aussöhnung verdient weiter jede Unterstützung. Die Aussöhnung ist in
erster Linie eine innerafghanische Angelegenheit. Die internationale Gemeinschaft muss gleichwohl
weiterhin darauf drängen, dass ausstiegswillige Aufständische der Gewalt abschwören, keine Verbindungen
mit Al Qaida oder anderen gewaltbereiten Gruppen unterhalten und die Grundsätze der afghanischen
Verfassung anerkennen. Der innere Frieden in Afghanistan darf nicht auf Kosten der Menschenrechte,
insbesondere nicht auf Kosten der gegen viele Widerstände wiedererlangten Rechte der Frauen errungen
werden.
• Die Bemühungen um eine regionale Stabilisierung der Lage müssen endlich wieder verstärkt werden. Ohne
eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan und ohne eine Einbeziehung
wichtiger Nachbarn wie China und Iran, ohne die zentralasiatischen Anrainer, ohne Russland, Indien und
andere einflussreiche Staaten wie der Türkei wird eine dauerhafte Befriedung der Region nicht gelingen.
Alle genannten Staaten haben sehr unterschiedliche Interessen, die zum Teil gegenläufig sind. Die
regionale Stabilisierung ist eine Aufgabe, die viel diplomatisches Geschick erfordert. Ein
multilateraler Ansatz ist unbestritten schwierig aber dennoch ohne Alternative.
• Der Prozess der Übergabe der Sicherheitsverantwortung muss mit einem straffen Zeitplan unterlegt und
konsequent umgesetzt werden. Die Ankündigung der NATO, bereits Anfang 2011 zu beginnen, steht und darf
nicht in Frage gestellt werden. Die aktuelle Lage sollte es erlauben, auch in der Nordregion erste
Distrikte schon Anfang 2011 an die Afghanen zu übergeben.
• Mit fortschreitender Übergabe der Sicherheitsverantwortung muss auch der Rückzug der internationalen
Truppen eingeleitet werden. Der amerikanische Präsident hat erklärt, mit dem Rückzug der US-Truppen
Mitte 2011 beginnen zu wollen. Dies muss auch Richtschnur für den Beginn der Reduzierung des deutschen
ISAF-Kontingents sein. Die von der NATO gesetzte Zielmarke 2014 für eine Beendigung der internationalen
Beteiligung an Kampfhandlungen in Afghanistan muss die verbindliche Richtschnur für die Beendigung des
Bundeswehr-Einsatzes im Rahmen des laufenden Mandates der Vereinten Nationen bleiben.
• Afghanistan braucht Gewissheit, dass mit dem Ende der internationalen Kampfeinsätze nicht auch das
internationale Engagement in Afghanistan endet. Die beim NATO-Gipfel getroffene Vereinbarung über ein
längerfristiges Engagement der Allianz jenseits der Beteiligung an ISAF ist ein wichtiges Element, kann
aber eine entsprechende Verpflichtung der Vereinten Nationen bzw. enger Verbündeter und potentieller
Zukunftspartner, die dem Bündnis nicht angehören, nicht ersetzen.

V. Agieren statt reagieren – unsere Forderungen an die Bundesregierung

Die SPD steht weiterhin zu ihrer Verantwortung für Afghanistan und seine Bevölkerung. Die neue Afghanistan-Strategie der Bundesregierung trägt in weiten Teilen unsere Handschrift. Wir erwarten, dass die Bundesregierung sich an ihre Zusagen hält und erkennen lässt, dass sie ihrer Rolle als einer der größten Geber ziviler Hilfe und bedeutender Truppensteller politisch gerecht wird und auf internationaler Ebene ihren Einfluss geltend macht, um das internationale Afghanistan-Engagement zum Erfolg und den
militärischen Einsatz im international vereinbarten Zeitrahmen zum Ende zu führen. Wir fordern von der Bundesregierung daher:

• Die Mittel für den zivilen Wiederaufbau müssen auf dem erreichten Niveau fortgeschrieben werden, deren
Abfluss ist aber auch an der Umsetzung der Selbstverpflichtung der afghanischen Regierung auszurichten.
Der zivile Wiederaufbau darf nicht weiter durch unrealistische und überflüssige Bedingungen für die
Mittelvergabe an NGOs ohne Not und Sinn behindert werden. Eine Militarisierung der
Entwicklungszusammenarbeit lehnen wir strikt ab.
• Die Unterstützung der afghanischen Regierung beim Aufbau effizienter Verwaltungsstrukturen auf
nationaler und regionaler Ebene und bei der Bekämpfung der Korruption muss forciert werden. Die
Ausbildung afghanischer Verwaltungsfachleute muss mit höchster Priorität betrieben werden.
• Am ISAF-Mandat und der Struktur des deutschen ISAF-Kontingents dürfen keinerlei Änderungen vorgenommen
werden, die die Neuausrichtung des militärischen Engagements in Richtung auf Ausbildung der
afghanischen Sicherheitskräfte in Frage stellt. Eine Erhöhung der Obergrenze lehnen wir entschieden ab.
Nachdem die flexible Reserve von 350 Soldaten selbst in kritischen Lagen wie der Parlamentswahl im
vergangenen September nicht zum Einsatz gekommen ist, sind die bisher vorgelegten Gründe für deren
Mandatierung nicht mehr ausreichend.
• Unsere Forderung, das deutsche ISAF-Kontingent 2011 zu reduzieren, wurde in der Regierungserklärung zum
Fortschrittsbericht Afghanistan am 16. Dezember 2010 im Deutschen Bundestag von Außenminister
Westerwelle aufgenommen. US-Präsident Obama hat seine Absicht, mit der Reduzierung der US-Truppen im
Juli 2011 zu beginnen, vor kurzem noch einmal bekräftigt. Wir bleiben dabei: Auch die Bundesregierung
muss mit dem Rückzug des deutschen ISAF-Kontingents innerhalb dieses Jahres beginnen. Die Reduzierung
muss irreversibel sein und sich in den ISAF-Folgemandaten widerspiegeln.
• Bereits Anfang dieses Jahres muss die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die
afghanischen Partner eingeleitet werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass an diesem Fahrplan
festgehalten wird.
• Die Bundesregierung muss sich klar zu der von der NATO formulierten Perspektive für die Beendigung der
internationalen Beteiligung an Kampfeinsätzen in Afghanistan bis 2014 bekennen.
• Die gegenwärtige Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen muss von der
Bundesregierung genutzt werden, um die UN, befreundete Staaten und andere potentielle Partnerländer
auf eine längerfristige wirtschaftliche und politische Unterstützung Afghanistan jenseits der
ISAF-Mission zu verpflichten. Afghanistan braucht, gerade auch nach Beendigung der ISAF-Mission,
Freunde und Partner, die an seiner Seite stehen. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle
müssen sich aus ihrer passiven Rolle lösen und, dem Gewicht und Ansehen Deutschlands auf
internationaler Ebene gemäß, endlich politisch initiativ werden.
• Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, über die Gastgeberrolle hinaus auf der für November 2011
geplanten Afghanistan-Konferenz in Bonn den weiteren Fahrplan zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung
und der Truppenreduzierung bis 2014 mit der afghanischen Regierung und den internationalen Partnern zu
vereinbaren. Die Bundesregierung muss mit den afghanischen und internationalen Partnern die
verbleibende Zeit intensiv nutzen, damit die vereinbarten Benchmarks beim zivilen Wiederaufbau
überprüfbar umgesetzt werden und die afghanische Regierung ihrer Verantwortung nach guter
Regierungsführung endlich nachkommt.
• Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, für volle Transparenz und Offenheit gegenüber den Fraktionen
des Deutschen Bundestages und der deutschen Öffentlichkeit zu sorgen und sich nicht länger einer
unabhängigen Evaluierung des Einsatzes zu entziehen. Wir erwarten, anknüpfend an den Ende 2010
vorgelegten Fortschrittsbericht, eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Auswertung der Erfolge
und Defizite des Strategiewechsels bis Mitte des Jahres.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten befürworten und unterstützen das Engagement der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan. Ob die Bundesregierung weiterhin die Unterstützung der SPD für ihre nationale Afghanistanpolitik erhält, wird nach einer sorgfältigen Auswertung des Fortschrittsberichts und nach eingehender Prüfung des Mitte Januar vorzulegenden Mandatsantrages zu entscheiden sein. Das oberste Ziel muss sein, den Einsatz im international konsentierten Zeitfenster bis 2014 zu einem guten Ende zu führen. Es liegt in der Hand der Bundesregierung, sich hierzu klar zu bekennen, alle Anstrengungen auf dieses Ziel auszurichten und auf diese Weise für eine weiterhin breite Mehrheit im Deutschen Bundestag für den ISAF-Einsatz zu sorgen.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 13.01.2011 16:05.

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