Rede Sigmar Gabriel zum Entwurf des Bundeshaushalts 2011 im Deutschen Bundestag

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Rede Sigmar Gabriel zum Entwurf des Bundeshaushalts 2011 im Deutschen Bundestag

von redaktion am 15.09.2010 09:49




Rede Sigmar Gabriel zum Entwurf des Bundeshaushalts 2011 im Deutschen Bundestag


Gabriel

Berlin (rdp).
Mittwoch, dem 15. September 2010.

Es ist keine große intellektuelle Herausforderung heute eine Oppositionsrede gegen Sie und Ihre Regierung zu halten. Eigentlich muss man nur die Überschriften der Zeitungen zitieren:

• „Etikettenschwindel“ (Bild, 2. 9. 2010).

• „Von Konzept keine Spur“, in der FTD vom gleichen Tag. Und weiter: „eine Ansammlung von Luftbuchungen, falschen Signalen und beliebigen Einzelpunkten“ (FTD, 2. 9.).

• „Die Karikatur eines zukunftsorientierten „Windbeutels“ (SZ, 9.6. 2010).

Aber man muss gar nicht Zeitungskommentare nehmen, noch einfacher und klarer ist das, was CDU/CSU und FDP über sich selbst sagen:

Zuletzt urteilte der FDP-Gesundheitsminister Rösler “Eigentlich ist das keine Koalition, sondern eine schlagende Verbindung.“ „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“: das sind ja Selbstbeschreibungen aus Ihren Reihen.

Es fällt schwer, das alles als Oppositionsredner zu toppen – jedenfalls dann, wenn man eine mitteleuropäische Erziehung genossen hat.

Wie konnte es passieren, dass eine Regierung so herunter gekommen ist? Der Grund für diese katastrophale Jahresbilanz ist nicht nur, dass sie handwerklich schlecht arbeiten.

Der eigentliche Grund ist, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihrem Wunschpartner von Anfang an der Kompass, die Orientierung und der Wille zum Gemeinwohl fehlte.

Das Wort „Gemeinwohl“ kommt deshalb in Ihrem Ehevertrag mit Herrn Westerwelle auch gar nicht vor. Warum auch, wo sie doch nur dann wirklich regieren, wenn Klientelinteressen bedient werden.

Am Anfang haben wir Sie ja dafür kritisiert, dass Sie gar nicht regiert haben. Denn alle schwierigen Entscheidungen hatten Sie ja bis nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen verschoben. Monatelang haben Sie versucht, die Deutschen hinters Licht zu führen.

Und als die Wahl in NRW vorbei war, wussten wir: es ist noch schlimmer, wenn Sie tatsächlich regieren.

Was hatten Sie vorher nicht alles versprochen:


• Mehr Netto vom Brutto und eine Steuersenkung von 24 Milliarden Euro. Das Gegenteil kommt heute heraus: Höhere Krankenkassenbeiträge, Zusatzbeiträge und höhere Gebühren, weil Sie die Kommunen schröpfen.

Einzige Ausnahme: mehr Netto vom Brutto gab’s als Dankeschön an Hoteliers, reiche Erben und große Konzerne.

• Sie haben versprochen, mehr für die Familien und Alleinerziehenden zu tun. Heute streichen Sie das Elterngeld für Hartz IV-Empfänger und geben den Gutverdienern 1.800 Euro im Monat.
Mehr als 100.000 Familien, fast 50.000 Alleinerziehende bekommen deshalb nächstes Jahr 3.600 Euro weniger.

Die Leidtragenden sind die Kinder. Das ist die Wirklichkeit Ihrer schwarz-gelben Familienpolitik und nicht die netten Sprüche Ihrer Ministerinnen.

• Und als es zur bislang größten Krise des EURO kam, haben Sie erst die „eiserne Kanzlerin“ gespielt, um dann über Nacht die Steuerzahler für das Zocken der Spekulanten in Haft zu nehmen. Bis heute zahlen die Finanzmärkte keinen Cent für die Bewältigung dieser Krise.

Wenn wir über Politikverdrossenheit in Deutschland und Europa reden, dann haben wir hier einen wirklich überragenden Beitrag dazu:

Die einen leben in Saus und Braus und zocken am Ende die ganze Welt in die Krise. Und die anderen, die hart arbeiten und dafür immer weniger bekommen, die sollen jetzt die Zeche dafür zahlen.

Nach Ihrem gestern vorgelegten Haushalt zahlen nämlich die Falschen für die Krise:

• Ausgerechnet in einer Zeit, wo wir Wachstum im Inland vergrößern müssen, weil auf das Exportwachstum nicht dauerhaft Verlass ist, legt diese Bundesregierung die Axt an die erfolgreichsten Mittelstandsprogramme, die wir bislang hatten.

Wie wenig muss man eigentlich von Wirtschaft verstehen, wenn Sie augerechnet das energetische Sanierungsprogramm und die Städtebauförderung faktisch halbieren? Selbst Ihnen muss doch aufgefallen sein, dass davon tausende Handwerker, die Verbraucher und die Umwelt profitieren?

• Es zahlen die Kindergärten, Schulen, Volkshochschulen und die Vereine in den Städten und Gemeinden drauf, denn Sie nehmen den Kommunen durch Ihre unsinnigen Klientelgesetze 2,8 Milliarden Euro weg. Davon könnte man 280.000 Kitaplätze finanzieren, oder 70.000 Lehrerstellen!

• Und Sie sind sich auch nicht zu schade, arbeitssuchenden Menschen die Qualifizierungsmaßnahmen zusammen zu streichen. Und wir können sicher sein: Es wird nicht lange dauern, da veranstaltet Frau Merkel dann einen Gipfel zum Fachkräftemangel und zum lebenslangen Lernen. Das ist kein Kurs, das ist eine Irrfahrt nach Absurdistan!

Als wäre das nicht alles schon genug, Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie gleichzeitig auch noch an den falschen Stellen mehr Geld ausgeben:

Wie man angesichts der offensichtlichen Sprach- und Integrationsprobleme vieler ausländischer Kinder und Jugendlicher auf die Idee kommen kann, in Zukunft jeder Familie 150 Euro pro Monat dafür zu geben, dass sie ihr Kind NICHT in den Kindergarten bringt, dass müssen Sie uns mal erklären. Welch ein Wahnsinn! Nach ZEW-Berechnungen werden Sie, wenn Sie diesen Unfug weiter vorantreiben, am Ende 1,4 – 1,9 Mrd. Euro/Jahr dafür ausgeben, dass Kinder NICHT besser gefördert werden.

70.000 Schülerinnen und Schüler machen jedes Jahr keinen vernünftigen Schulabschluss. Es werden bald 20 Prozent eines Jahrgangs sein, der keine Berufsreife nach der Schule hat. Bei den ausländischen Jugendlichen sind es 40 Prozent.

Ich finde auch, dass wir als Exportnation im Wettbewerb um internationale Spitzenkräfte auch Zuwanderung brauchen.

Aber wie wäre es denn, wenn wir uns erstmal um die jungen Menschen kümmern, die schon hier sind?

Warum ist es eigentlich so schwer, sich mal auf Hilfe für die ganz unten zu einigen?

Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie die Geldverschwendung für Herdprämien und andere absurden Vorhaben.

Und führen Sie ausnahmsweise mal in die richtige Richtung: Lassen Sie uns die unsinnige Verfassungsänderung rückgängig machen, die wir gemeinsam zu verantworten haben, und die verhindert, dass Bund und Länder bei der Bildungspolitik vernünftig zusammen arbeiten.

Was unsere Kinder und Jugendlichen und die Eltern wirklich brauchen, ist etwas ganz anderes: Sie brauchen vor allem in den sozialen Brennpunkten Kindertagesstätten, die Familienbildungsstätten sind. Und sie brauchen mehr Ganztagsschulen mit ausreichend Lehrern, Erziehern, Sozialpädagogen und Psychologen.

Frau Dr. Merkel, wenn Sie den Norden suchen auf Ihrem Regierungskompass: hier in der Bildungspolitik finden Sie ihn. Wir helfen Ihnen gern beim Suchen.


Aber stattdessen tun Sie das Gegenteil. Und Sie rechtfertigen diese Einsparungen auch noch mit Sprüchen darüber, dass angeblich „wir alle über unsere Verhältnisse gelebt“ hätten.
In welchem Land leben Sie eigentlich?

In Deutschland jedenfalls haben ganz wenige über Ihre Verhältnisse gelebt: Nämlich die obersten 1 %, deren Vermögen in den letzten zehn Jahren trotz Finanzkrise um 10 % gewachsen sind.

Dafür aber:
• arbeiten 1,3 Millionen Menschen fünf Tage in jeder Woche und müssen trotzdem hinterher zum Sozialamt, um ihre Miete bezahlen zu können.
• bekommt jeder zweite Jugendliche nach der Ausbildung keinen anständigen Job, sondern landet in Leih- und Zeitarbeit mit schlechten Löhnen.

• haben die 70% der Gering- und Durchschnittsverdiener in Deutschland in den letzten 10 Jahren Reallohnverluste und einen Vermögensverlust von 7 % hinnehmen müssen, wodurch die Mittelschicht geschrumpft ist!

Wenn die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland so sehr auseinander geht, wenn sich immer mehr abgekoppelt fühlen, dann können Sie doch nicht daher kommen und den Leuten einreden, sie lebten über Ihre Verhältnisse!
Was Sie wirklich machen müssten, ist wieder für Recht und Ordnung zu sorgen. Und zwar auf den Arbeits- und auf den Finanzmärkten.

Natürlich muss der, der arbeiten geht, mehr verdienen, als jemand, der nicht arbeitet. Aber doch nicht durch die Regelsätze von Hartz IV, sondern durch einen gesetzlichen Mindestlohn.

Ihr Außenminister hat das Gegenteil davon gefordert. Dass er dabei nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Verfassung verstößt, interessiert ihn natürlich nicht.

Herr Westerwelle: was sagen Sie eigentlich dazu, wenn Frau von der Leyen jetzt eine Erhöhung der Hartz IV Regelsätze vorschlagen wird – und zwar nicht nur für Kinder?

Ich nehme an, Sie warten ein paar Monate, um dann wieder unter dem Motto „Das wird man doch noch sagen dürfen“ die Kürzung der gleichen Regelsätze zu fordern, die Sie demnächst im Kabinett mitbeschließen werden.

Und weil wir gerade in mancherlei Hinsicht erleben, dass unter dieser Überschrift „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ das Nutzen von Ressentiments wieder in Mode kommt, nur soviel zu einer Debatte in Deutschland, die mir jedenfalls zunehmend Sorge bereitet:

Ja, es gibt eine wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und Politik. Und ja, das hat auch viel mit Fehlern und auch Versagen der Politik und der Parteien selbst zu tun. Viele Menschen haben den Eindruck, dass wir nichts mehr über ihren Alltag wissen und uns dafür auch nicht interessieren. Es gibt ein wachsendes Ohnmachtsgefühl: „Die da oben – wir hier unten.“ Wahlenttäuschung aber auch Radikalisierung sind Folgen davon.

In der Integrationsdebatte hat ein Teil von uns zulange die Augen davor verschlossen, dass wir längst ein Einwanderungsland geworden sind. Die Wahlparolen gegen das Zuwanderergesetz, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und gegen das kommunale Wahlrecht für Ausländer sind uns gut in Erinnerung. Ein anderer Teil hat mit zuviel Naivität von der „Multikulti-Gesellschaft“ geträumt.

Diese Naivität hatten offenbar nicht nur Sozialdemokraten und Grüne. Ich erinnere mich noch gut, dass auf einmal die deutsche Fußballnationalmannschaft als Beispiel für die „Bunte Republik Deutschland“ gepriesen wurde – auch vom neugewählten Bundespräsidenten.

Die Integrationsprobleme sind dadurch jedoch nicht kleiner geworden. Es stimmt schon, was Johannes Rau in einer Rede am 12. Mai 2000 dazu gesagt hat: Weder Fremdenfeindlichkeit noch Träumereien helfen uns weiter.

Aber ich sage auch mit großem Ernst: das alles darf nicht darin münden, dass wir beginnen mit Ressentiments Politik zu machen. Ja, es stimmt: jeder Bürger darf in Deutschland alles sagen und denken. Selbst wenn es sich um Vorurteile und Ressentiments handelt.

Aber diejenigen, die sich zur politischen, wirtschaftlichen und medialen Führung dieses Landes zählen, dürfen das eben nicht! Harter politischer Streit und Zuspitzung sind nötig – sie sind aber etwas anderes als Vorurteile und Ressentiments schüren.

Die Meinungsfreiheit in Deutschland ist kein Deckmäntelchen für verantwortungsloses Gerede von Spitzenpolitikern. Egal ob sie im deutschen Bundestag sitzen oder in der Bundesbank.

Das gilt für soziale Ressentiments ebenso wie für ethnische und kulturelle. Und es gilt auch für historische Ressentiments gegen unsere Nachbarn, die wie die Polen unsagbares Leid durch den Angriffskrieg Hitlerdeutschlands erlitten haben.

Wer aus dem Führungspersonal der Republik Ressentiments und Vorurteile in der politischen Auseinandersetzung von Demokraten salonfähig macht, der muss sich nicht wundern, wenn sich die Falschen ermuntert fühlen.

Wir wissen doch genau, dass es in jeder Gesellschaft viele Ressentiments und Vorurteile gibt. Und natürlich gibt es die auch in den meisten von uns allen hier im Saal.

Umso wichtiger ist es, dass wir nicht dann aus diesem schier unerschöpflichen Reservoir schöpfen, wenn wir uns gerade mal unter Druck fühlen oder es opportun gegenüber der scheinbar kochenden Volksseele erscheint.

Der Boulevard, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat kein Gedächtnis. Er muss im Zweifel nach Auflage schreiben. Wir dürfen das im Zweifel nicht.

Wenn wir etwas dazu beitragen wollen, dass sich wieder mehr Menschen bei uns gut aufgehoben fühlen, dann müssen wir uns allerdings auch in der Politik mehr anstrengen.

Und nehmen Sie es mir bitte nicht übel: den Eindruck hat man nun wahrlich nicht bei dem von Ihnen vorgelegten Haushalt.

Eigentlich müsste es in Deutschland doch jetzt um einen Aufschwung für alle gehen.

Denn es gibt einen Aufschwung und wir freuen uns darüber. Aber Sie werden sicher verstehen, warum wir es schon als Satire empfinden, dass ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister sich damit brüstet, dazu einen Beitrag geleistet zu haben.

Sie, Herr Brüderle, haben doch am 4. Dezember 2008 gegen das Konjunkturpaket und am 28. 5. 2009 gegen die Verlängerung der Abwrackprämie gestimmt. Sie und Ihre FDP waren doch gegen fast alles, was diesen Aufschwung möglich gemacht hat.

Herr Westerwelle hat das Konjunkturpaket damals an diesem Pult hier als „Schrott“ und „Flickschusterei“ verdammt. Herr Brüderle hat das Konjunkturpaket damals als „harte Droge“ abgelehnt. Und heute schwadroniert er vom „Aufschwung XL“, den er angeblich befördert habe!

In Wahrheit, Herr Brüderle, sind Sie nur der größte Abstauber, den Deutschland seit langem gesehen hat.

Was wir brauchen ist ein Aufschwung für alle mit sicheren Arbeitsbedingungen und auch fairen Löhnen. Denn es sind doch die Arbeitnehmer gewesen, die in der Krise auf Lohn und Gehalt verzichtet haben, um die Unternehmen zu retten. Es ist doch nur fair, dass sie jetzt – wo es besser geht – auch etwas davon zurück haben wollen.

Und noch etwas gehört zum Aufschwung für alle: nämlich die nächste Krise zu verhindern, denn noch mal werden wir keine hunderte von Milliarden Euro zusammen bekommen.

Die jetzt verabschiedeten Eigenkapitalvorschriften im sogenannten Basel III Abkommen sowie die weiteren, oftmals gegen Ihren Widerstand zustande gekommenen Maßnahmen auf europäischer Ebene, sind doch kein Ersatz dafür, dass die Verursacher der Finanzkrise endlich mit zur Verantwortung für den Schuldenabbau in Deutschland und Europa heran gezogen werden.
Zuhause große Reden halten über die Regulierung der Finanzmärkte. Aber wenn’s an’s Eingemachte geht, dann führen die Großbanken Ihnen die Feder. Diesen Eindruck haben ja nicht nur wir, sondern auch die Sparkassen und Volksbanken.

Anders kann man sich auch Ihre Bankenabgabe in Deutschland nicht erklären, bei der am Ende die Sparkassen und Volksbanken für die Krise zahlen sollen, obwohl sie nun wirklich nichts dafür können.

Sie müssen sich mal entscheiden, was sie wirtschaftspolitisch wollen: mehr Kredite für den Mittelstand und höhere Eigenkapitalquoten oder eine Abgabe, die genau das schwieriger macht.

Sie wollen doch das besteuert, was wir uns alle wünschen: Kredite für Mittelständler, Wohneigentum und Investitionen. Ihre Bankenabgabe zahlen die Kunden und Mittelständler durch höhere Kreditzinsen und es zahlen gerade nicht die Spekulanten.

Was wir wirklich brauchen, ist eine Steuer für die Zocker an den europäischen Finanzmärkten und keine Abgabe von Volksbanken und Sparkassen.

Wir erinnern uns noch gut, welche Reden der Außenminister hier im Deutschen Bundestag zur Finanzmarkt- und Währungskrise geschwungen hat. Z.B. am 7. Mai 2010:

„Es weiß jeder, dass wir diesen Spekulationen Einhalt gebieten müssen. Wir müssen doch erkennen, dass wir – auch für unser Land – eine Aufgabe zu erfüllen haben.“

Wohl wahr, Herr Westerwelle. Aber warum hören wir eigentlich nichts zu diesen Initiativen, die Sie da ergreifen wollten? Was haben Sie nun eigentlich nach fast einem Jahr im Amt wirklich vorzuweisen?

Ihr Kabinettskollege Norbert Röttgen hat im „Stern“ über Sie gesagt, Sie seien „irreparabel beschädigt“. Das war sicher nicht nett von Herrn Röttgen, aber es ist ja wahr. Seit Sie Ihre Partei schneidig an die Wand gefahren haben, ist von Ihnen nicht mehr viel zu hören.

Sie haben als Außenminister im ersten Amtsjahr keinen einzigen wahrnehmbaren Impuls gesetzt. Deutschland hat sich unter Ihrer Führung als Akteur von der internationalen Bühne abgemeldet. Sogar die Diplomaten im Auswärtigen Amt sind verzweifelt.

Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht,
wir verlieren an Gewicht in der Welt,
wir verspielen Ansehen, jeden Tag.

Sie, Herr Westerwelle, haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland weit unter Wert und unter seiner internationalen Bedeutung regiert wird.

Frau Bundeskanzlerin, ob es um die Finanzmarktregulierung, die Bildung oder den Bundeshaushalt geht: die Financial Times hat schon Recht, wenn sie am Ihnen 2. September schwarz-gelbe Beliebigkeit attestiert: „schwarz-gelb probiert mal dies, mal jenes und je nachdem, wie stark die Lobby ist, wechselt die Koalition die Richtung.“

Den Beweis dafür haben Sie nirgendwo so drastisch erbracht, wie in der Energiepolitik.

Nun könnte man sich ja darüber lustig machen, wie das von Ihnen selbst so hochgepriesene Energiekonzept gerade von den Mitgliedern Ihrer eigenen Regierung auseinander genommen wird. Der Umweltminister hält es für verfassungswidrig.

Und Herr Schäuble, Sie haben gestern gesagt: „Wir schaffen Anreize für mehr Energieeffizienz und Einsparung.“ Ich frage Sie: reden Sie eigentlich gelegentlich mit Ihrem Kollegen Ramsauer? Der hat sich gerade in Bausch und Bogen gegen alle Effizienzmaßnahmen ausgesprochen, die darin enthalten sind.

Ich weiß ja aus meiner Zeit als Umweltminister: Herr Ramsauer ist wahrer Filigrantechniker der Energieeffizienz. Und ehrlich gesagt: ich finde die Tatsache, dass jetzt Herr Röttgen und Herr Schäuble mit ihm klar kommen müssen, einen wirklich gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich.

Da schustern Sie vier großen Konzernen 100 Milliarden Euro zu. Sagen Sie mal Herr Brüderle, Sie gerieren sich doch so gerne als Wettbewerbsfreund und als Mittelständler. Sie predigen Wettbewerb – in Wahrheit bedienen die Oligopole. Größeren Schaden für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt konnten Sie gar nicht anrichten als mit diesem Geschenk.

Ich will mit Ihnen gar nicht über den ökologischen Sinn oder Unsinn der Atomenergie streiten. Und auch nicht über die wirklich widersinnige Politik gegen einen der wichtigsten Leitmärkte, den Deutschland entwickelt hat: die erneuerbaren Energien mit inzwischen 300.000 neuen Jobs. Die mögliche Verdoppelung auf 600.000 bis zum Jahr 2020 haben Sie eben gerade gründlich ausgebremst.

Denn wenn Sie wirklich glauben, diesen vier Konzernen die Förderung der Unternehmen der Erneuerbaren Energien anvertrauen zu können– einer zutiefst mittelständischen Branche – dann glauben Sie vermutlich auch, dass man Gänse von Weihnachten überzeugen kann.

Hier hat sich nur ein Interesse durchgesetzt: mit alten abgeschriebenen Atomkraftwerken pro Tag eine Million Euro zu verdienen. Sie haben mal wieder einer Wirtschaftslobby nachgegeben. Mehr nicht.

Aber, Frau Bundeskanzlerin, als wäre das, was Sie tun, nicht schon schlimm genug, toppen Sie das alles noch dadurch, wie Sie es machen. Jedem anderen hätte das die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

Da wird monatelang über eine Steuer nicht in der Regierung oder dem Parlament verhandelt, sondern hinter verschlossenen Türen mit den Atomlobbyisten. Und nächtens wird bei den Energieversorgern noch mal nachgefragt, ob’s denn auch genehm ist, was die Regierung beschließen will.

Und als reichte das nicht schon aus, um klar zu machen, was Sie so unter „Durchregieren“ verstehen, treffen Sie auch noch Nebenabsprachen in Geheimverträgen, die nur öffentlich wurden, weil sich einer der Manager verplappert hat.

Ist eigentlich das, was Sie auf Ihrer Energiereise im Sommer gelernt haben? Wenn ja: bleiben Sie bitte im nächsten Sommer zu Hause.

Frau Dr. Merkel, in allem Ernst: benehmen Sie sich bitte wie eine Kanzlerin und nicht wie eine Geheimrätin.

Kein Kanzler darf das Volk so schamlos zu täuschen versuchen!

Alles, was zu Sicherheitsfragen von Atomkraftwerken zu regeln wäre, steht im Atomgesetz. Und da steht auch drin, wer die Sicherheitsstandards zu setzen hat, wer sie kontrolliert und wer die Kosten dafür zu tragen hat.
Deshalb hat man es übrigens als Umweltminister relativ leicht, sich gegenüber den Unziemlichkeiten aus dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Kanzleramt durchzusetzen, wenn man es wirklich will. Glauben Sie mir: ich weiß, wovon ich rede.

Dass Sie am Umweltminister vorbei über die Reaktorsicherheit verhandeln, ist schon schlimm genug. Dass Sie gegen die Verfassung verstoßen, wenn Sie den Bundesrat umgehen wollen, mag ja bei Ihren Kollegen hier im Bundestag Beifall finden.

Aber meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, finden Sie es eigentlich auch gut, wenn Frau Merkel jetzt auch den Bundesgesetzgeber ausschalten will, in dem Sie Verträge über Dinge abschließt, die im Gesetz zu regeln sind? Das ist doch der Unterschied zum rot-grünen Ausstiegsvertrag. Da ist nichts am Atomgesetz vorbei geregelt worden.

Wenn wir als Parlamentarier selbst das Parlament nicht mehr ernst nehmen, wieso wundern wir uns dann eigentlich darüber, dass es die Bevölkerung zunehmend weniger tut?

Sie, Frau Merkel, haben gerade geplant, ganz im Stillen und Geheimen die Kosten für die Nachrüstung alter Atommeiler am Atomgesetz vorbei zu regeln. Dafür soll in Zukunft der Steuerzahler mithaften.

Merken Sie denn gar nicht, was Sie da anrichten?

Noch nie hat sich eine Regierung so sehr zum Handlanger der Großkonzerne degradiert. Sie haben sich selbst zur Kanzlerin der Konzerne gemacht! Ihnen führt die Atomlobby die Hand. Ihrem Gesundheitsminister die Pharmaindustrie und dem Finanzminister die Großbanken und Hoteliers.

Und sie schaffen damit gerade ein Konjunkturprogramm für Politikverdrossenheit und schaden dem Ansehen der Demokratie!

Und Sie eröffnen einen gesellschaftlichen Großkonflikt von Neuem, den SPD und Grüne befriedet hatten.

Deshalb sage ich Ihnen und Ihren Freunden in der Atomlobby: verlassen Sie sich nicht auf windige Absprachen. Dieser Deal hat eine maximale Restlaufzeit von drei Jahren. Dann steigen wir daraus aus!

Frau Bundeskanzlerin, Ihre Regierung ist verantwortlich für zwölf Monate politische Lähmung in Deutschland. Seit einem Jahr ist diese Regierung auf Selbstfindungstrip.

Gegen Ihre Regierung ist ein Kinderladen der 68er so diszipliniert wie eine preußische Kadettenanstalt.

Wie viele Neuanfänge, Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie dem deutschen Volk eigentlich noch zumuten?
In Wirklichkeit fangen Sie nichts neu an. Sondern sie verletzen fortwährend das Gefühl für Fairness und Balance in unserem Land.

Ihr Haushalt trägt die Handschrift der Lobbyisten. Sie kassieren die Armen ab und lassen die Vermögenden ungeschoren. Sie tasten die Vermögensmillionäre nicht an, obwohl viele von denen bereit sind, mehr zu geben. Sogar der Chef des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, kritisiert Sie.

Er sagt: Das Sparpaket hat eine soziale Schieflage. Und wo er Recht hat, hat er Recht.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, und Herr Westerwelle sind mit markigen Worten angetreten. Den „Zusammenhalt“ wollten Sie stärken. Und Ihre angeblich bürgerliche Koalition wollte bürgerliche Werte stärken.

Seit fast 12 Monaten machen Sie das genaue Gegenteil. Sie verstoßen gegen elementare Wertvorstellungen in unserem Land. Auch gegen die von Liberalen und Konservativen.

Fairness, Glaubwürdigkeit und Verantwortungsbewusstsein findet man bei Ihnen nicht.

Deshalb sind die bürgerlichen und liberalen Wähler fassungslos und wenden sich enttäuscht ab.

Und tun Sie bitte nicht so, als sei Ihr Kurs alternativlos. Es gibt durchaus andere Wege, die Schulden abzubauen und trotzdem Impulse für Bildung und Investitionen zu geben:

• Nehmen Sie die Besserverdienenden im Land in ihre patriotische Pflicht. Erinnern Sie mutig daran, dass im Grundgesetz steht: „Eigentum verpflichtet.“
• Nehmen Sie die unsinnigen Steuergeschenke an Hoteliers, reiche Erben und große Konzerne zurück.
• Und führen Sie die Brennelementesteuer nicht als Ablasshandel für längere Laufzeiten alter Atommeiler ein, sondern um die Steuerzahler davor zu schützen, bis zu 10 Milliarden für die Sanierung alter und maroder Atommüllendlager zu bezahlen, die die vier Konzerne uns hinterlassen haben.
• Stoppen Sie absurden Ausgabewünsche für Herdprämien und andere Spielarten einer verfehlten Bildungspolitik.
• Kürzen Sie stattdessen die wirklich unsinnigen Subventionen im Umweltbereich – statt mit dem Rasenmäher die Energiesteuern zu erhöhen und damit wichtigen Exportindustrien das Leben schwer zu machen.

Auf diesem Weg können wir die Schulden abbauen und Fairness im Land zurück kehren lassen. In Wahrheit hat nämlich eine freiheitliche Wirtschaftsordnung keinen dauerhaften Erfolg, wenn sie nicht auch mit sozialem Ausgleich und sozialer Sicherheit verbunden wird.

CDU/CSU und FDP scheinen das auch nach der Finanzkrise noch nicht verstanden zu haben. Sie machen das Gegenteil: Wer Sie unter Druck setzt, der bekommt, was er will. Und wer keine Lobby hat, bleibt auf der Strecke.

Das ist das Markenzeichen Ihrer Regierung. Und dieses Stigma werden Sie auch mit diesem Haushalt nicht los.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 15.09.2010 09:51.

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