Grundsicherung statt Ausgrenzung - Grundsatzerklärung der GRÜNEN zu Hartz-IV

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Grundsicherung statt Ausgrenzung - Grundsatzerklärung der GRÜNEN zu Hartz-IV

from redaktion on 01/21/2010 03:54 PM



polis - Dokumentation


Gemeinsame Erklärung des Bundesvorstandes und der Landesvorstände von
BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN bei ihrem Treffen in Berlin am 21. Januar 2010


Grundsicherung statt Ausgrenzung


Passend zum neuen Jahr ist die Debatte um die Agenda 2010 neu entbrannt
und steht einmal mehr die HARTZ-IV Gesetzgebung im Fokus der Diskussion.
Wir Grüne führen die Debatte um eine sozial gerechte Absicherung seit
vielen Jahren und haben die Frage nach der Ausgestaltung und Reform des
ALG-II intensiv in unserem Wahlprogramm bearbeitet. Für uns waren die
konkreten Maßnahmen der Agenda 2010 nie sakrosankt, sondern wir sehen
seit langem Veränderungsbedarf an wesentlichen Punkten. Für uns gilt
seit jeher der Grundsatz: Grundsicherung statt Ausgrenzung. Mit seiner
Forderung nach einer Arbeitspflicht für ALG-II-EmpfängerInnen und mehr
Sanktionen hat Roland Koch die Realität jedoch auf den Kopf gestellt. Er
selbst hat damals über den Bundesrat die harten Sanktionen in die Agenda
2010 hineingestimmt. Koch gibt den unsozialen Rammbock, der dem
wahlkämpfenden, selbsternannten „Arbeiterführer“ Jürgen Rüttgers den
Spielraum erweitert. Die notwendige Debatte um Reformen an der Agenda
verkommt so zu einem populistischen Wahlkampf, den Schwarz-Gelb gerne
unter sich ausmachen möchte. Wir Grüne lassen das der Union nicht
durchgehen.

Wer wie Roland Koch Vokabeln wie „Arbeitspflicht“ und „Abschreckung“ in
die Debatte einbringt und Menschen ohne Job als chronisch faul und als
Arbeitsverweigerer stigmatisiert, vergiftet das gesellschaftliche Klima
und betreibt die Spaltung der Gesellschaft. Keine der diffamierenden
Behauptungen Kochs trifft zu. Arbeitssuchende sind nicht
arbeitsunwillig; tatsächlich fehlen aktuell rund fünf Millionen
Vollzeitarbeitsplätze in Deutschland. Auch die Rufe nach gesetzlichen
Verschärfungen sind vollkommen absurd, weil schon heute Arbeitssuchende
quasi jeden Job annehmen müssen, wenn sie nicht die Kürzung ihrer
Regelsätze riskieren wollen. Genauso abwegig ist die Behauptung, die
Jobcenter seien zu „milde“ im Umgang mit Sanktionen. Indem die Regierung
im Wahlkampf bewusst Widersprüche produziert und damit von ihrer Agenda
der Umverteilung von unten nach oben ablenkt, schürt sie absichtlich
Ressentiments gegen Arbeitssuchende. Für uns Grüne gilt: Wer ohne
Erwerbsarbeit ist oder sich aus anderen Gründen in einer Notlage
befindet, muss ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen und sich
auf eine armutsfeste Existenzsicherung verlassen können. Er muss
außerdem Unterstützung bei dem Weg aus der Arbeitslosigkeit heraus
bekommen. In diese Richtung muss die SGB II–Gesetzgebung
weiterentwickelt werden. Und wer erwerbstätig ist, hat Anspruch auf eine
Arbeit in Würde und auf einen Lohn, von dem man auch leben kann.

Hartz als Wahlkampfschlager

Im Zentrum der Fortentwicklung und Neuausrichtung der Grundsicherung für
Arbeitssuchende muss stehen, ob mit den entsprechenden Maßnahmen eine
unmittelbare Verbesserung der Situation der ALG-II-BezieherInnen
erreicht wird. Diesem Grundsatz wird keiner der zurzeit vorliegenden
Vorschläge gerecht.

Passend zum NRW-Wahlkampf haben Vertreter von Union, FDP und SPD ihr
Herz für arme Kinder und Alleinerziehende scheinbar wiederentdeckt. Doch
gerade mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat Schwarz-Gelb ein
3-Klassen-System etabliert, das die 1,8 Millionen Kinder von
ALG-II-EmpfängerInnen im Regen stehen lässt. Von den beschlossenen
Kindergelderhöhungen profitieren sie nicht. Fakt ist auch, dass die
Große Koalition in den letzten Jahren nichts zur Verbesserung der Lage
von ALG-II-BezieherInnen getan hat:
- Union und SPD haben in den letzten vier Jahren alle Forderungen nach
höheren Kinderregelsätzen abgelehnt. Erst das erwartete Urteil des
Bundesverfassungsgerichts wird voraussichtlich dafür sorgen, dass für
Kinder und Erwachsene eine vernünftige Bemessungsgrundlage für die
Regelsätze gegeben ist und sie angepasst werden. Erst das zwingt Union
und FDP auf den fahrenden Zug aufspringen.
- Der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der vor allem
Alleinerziehenden nutzen wird, steht auf der Kippe. Die Kommunen wissen
auch wegen der schwarz-gelben Steuergeschenke an Erben und Hoteliers
nicht, woher sie die dafür notwendigen Mittel hernehmen sollen.
- Die von der Bundesregierung geplante Zerschlagung der Jobcenter
bedeutet das Ende der Hilfe aus einer Hand, mehr Bürokratie und mehr
Klagen. Individuelle und passgenaue Hilfestellung für Arbeitssuchende
rückt so in immer weitere Ferne.
- Mit ihrer Forderung nach höheren Zuverdiensten ohne flächendeckende
Mindestlöhne, fördert die schwarz-gelbe Bundesregierung die Ausweitung
des Niedriglohnsektors und staatlich subventioniertes Lohndumping, die
Zahl der ALG-II-Anspruchberechtigten wird dann rapide ansteigen.
- Die von der Bundesregierung geplante Anhebung des Schonvermögens für
Altersvorsorgevermögen ist richtig, nützt aber nur sehr wenigen
Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen. Von einer Regelsatzerhöhung würden
hingegen alle profitieren.

Schritte zur Grünen Grundsicherung

Statt Mogelpackungen braucht es Verbesserungen für alle
ALG-II-EmpfängerInnen. Wichtig sind vor allem die zuverlässige Sicherung
des sozio-kulturellen Existenzminimums, die Stärkung der Rechte der
Hilfebedürftigen und die Bereitstellung individueller und passgenauer
Hilfen.
Um diese Ziele zu erreichen, fordern wir Grüne die Weiterentwicklung des
ALG-II zu einer Grünen Grundsicherung. Dafür sind folgende Schritte
notwendig:

Von Arbeit leben können

Wer den ganzen Tag arbeitet, muss davon leben können. Mit dem Grünen
Progressivlohnmodell wollen wir dafür sorgen, dass für Menschen mit
einem niedrigen Einkommen mehr Netto vom Brutto übrigbleibt. Eine
Verbesserung bei den Zuverdiensten ist richtig. Sie muss vor allem
zusätzliche Handlungsspielräume für diejenigen eröffnen, die z.B. als
Alleinerziehende nicht ohne weiteres in der Lage sind, einen Vollzeitjob
auszuüben. Ohne Mindestlöhne ist die Anhebung der
Zuverdienstmöglichkeiten nur eine Subventionierung von Unternehmen, die
Niedriglöhne zahlen. Der Niedriglohnsektor würde weiter wachsen und die
Löhne müssten durch Arbeitslosengeld II aufgestockt werden. Wir brauchen
daher eine verbindliche Lohnuntergrenze von 7,50 Euro pro Stunde und
flächendeckende Mindestlöhne. Mit dem grünen Progressivmodell wollen wir
außerdem die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal
absenken, damit mehr Netto von kleinen Einkommen bleibt.

Mehr Geld für Große und Kleine

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende muss neben der bloßen materiellen
Absicherung auch die Teilhabe aller an der Gesellschaft ermöglichen.
Deshalb fordern wir, dass das ALG-II neu berechnet werden muss. Für
einen alleinstehenden Erwachsenen muss die Regelleistung sofort auf
mindestens 420 Euro angehoben und in regelmäßigen Abständen angepasst
werden. Für Kinder und Jugendliche müssen eigenständige Regelsätze
ermittelt werden, die ihren tatsächlichen entwicklungsbedingten Bedarf
decken. Ziel ist eine eigenständige, bedingungslose
Kindergrundsicherung, die das sozio-kulturelle Existenzminimum und die
Freibeträge für Erziehung und Betreuung umfasst.

Hilfe statt Repressalien

Anders als CDU und SPD verstehen wir unter Arbeitsmarktpolitik nicht
lediglich die Verwaltung von Arbeitslosigkeit. EDV-Masken,
Scheinangebote und Sanktionsdrohungen, deren Verschärfung
Bundeskanzlerin Merkel und Ministerin von der Leyen jetzt fordern,
helfen Arbeitsuchenden nicht weiter. Stattdessen brauchen wir
qualifizierte, maßgeschneiderte und umfassende Hilfen. Das Ziel: den
Betroffenen dauerhaft ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu
ermöglichen.

Jobcenter erhalten

Gegen jeden Expertenrat will die Bundesregierung die Jobcenter
zerschlagen und mit Arbeitsagentur und Kommune wieder zwei getrennte
Ansprechpartner für Arbeitsuchende schaffen. Hilfe aus einer Hand - also
die enge Verknüpfung und Abstimmung von arbeitsmarkt- und
sozialpolitischen Maßnahmen - ist aber die Basis für die erfolgreiche
und andauernde Integration der Betroffenen. Um dieses Prinzip zu
bewahren, wollen wir Grüne mit einer Verfassungsänderung neben der
Absicherung der Jobcenter auch die Ausweitung des Optionsmodells möglich
machen.

Rechte der Arbeitssuchenden stärken

Die schematische Fallbearbeitung muss einem qualifizierten und
individuellen Fallmanagement weichen. Die Hilfebedürftigen müssen
zukünftig das Recht haben, zwischen Maßnahmen zu wählen. Eigene
Vorschläge der Hilfebedürftigen müssen Priorität in der Hilfeplanung
haben. Statt jährlich eine Milliarde Euro für meist sinnlose
Ein-Euro-Jobs auszugeben, muss dieses Geld in die schulische und
berufliche Qualifikation Arbeitsuchender fließen. Der Grundbedarf, der
für echte Teilhabe notwendig ist, darf nicht durch Sanktionen angetastet
werden. Wird Fähigkeiten, Wünschen und Wahlrecht nicht Rechnung
getragen, dürfen keine Sanktionen verhängt werden. Solange nur Fordern,
aber nicht mehr das Fördern stattfindet, fordern wir ein
Sanktionsmoratorium beim ALG-II. Bei allen Trägern des SGB II müssen in
Zukunft unabhängige Ombudsstellen eingerichtet werden, die in
Konfliktfällen zwischen Hilfebedürftigen und Trägern vermitteln.

Individueller Anspruch auf Hilfe

Gegenseitige, finanzielle Abhängigkeit wird im ALG-II innerhalb der
Bedarfsgemeinschaften zementiert. Dies benachteiligt vor allem Frauen.
Für ein selbstbestimmtes Leben ist jedoch eine eigenständige
Existenzsicherung unerlässlich. Wir wollen, dass die Grundsicherung
langfristig vollständig individualisiert werden muss. Dieser Prozess
muss von der Individualisierung anderer Systeme wie der Einkommensteuer
sowie der Kranken- und Rentenversicherung begleitet werden. Ein erster
Schritt der Individualisierung im ALG-II könnte es sein, bei der
Anrechnung des Partnereinkommens zusätzliche Freibeträge zu verankern,
wenn hilfebedürftige Menschen zuvor erwerbstätig waren.

Sozialer Arbeitsmarkt

Ãœber 400 000 Menschen in Deutschland suchen einen Platz im Sozialen
Arbeitsmarkt, also längerfristig öffentlich geförderte Beschäftigung.
Daher fordern wir Grüne gemeinsam mit den Sozialverbänden die Ausweitung
der Beschäftigung im Dritten Sektor und die Förderung von Beschäftigung
in Integrationsfirmen. Getreu dem Motto „Arbeit statt Arbeitslosigkeit
finanzieren“ wollen wir dafür die passiven Leistungen des
Arbeitslosengeld II (Arbeitslosengeld II, Kosten der Unterkunft, u.Ä.)
in ein Arbeitsentgelt umwandeln. Wir brauchen endlich ein Umsteuern beim
Sozialen Arbeitsmarkt und die Einführung eines so genannten
„Passiv-Aktiv-Transfers“ zur Option auf sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung.

Reply Edited on 01/21/2010 05:34 PM.

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