Gabriel-Rede bei der Afghanistan-Konferenz der SPD

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Gabriel-Rede bei der Afghanistan-Konferenz der SPD

von redaktion am 22.01.2010 10:57



polis - Dokumentation


Rede

des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands


Sigmar Gabriel


bei der Afghanistan-Konferenz der SPD

am Freitag, dem 22. Januar 2010,

im Willy-Brandt-Haus in Berlin.



Sehr geehrte Damen und Herren,

als wir angefangen haben, diese Konferenz zu planen, sind wir schon von Anmeldungen überschüttet worden, bevor wir die Einladung überhaupt verschickt haben. So viele Excellenzen, Minister, Bundestagsabgeordnete, Diplomaten, Soldaten, Polizisten, Vertreter von Kirchen und Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, Experten und Interessierte haben Ihr Kommen zugesagt, dass schon die Begrüßungsformel eine Herausforderung ist.

Lassen Sie mich vor allem unseren Ehrengast begrüßen, des scheidenden Außenminister Afghanistans Dr. Spanta, der nicht gezögert hat, eine Woche vor der internationalen Konferenz in London, die er für seine Regierung vorbereitet, zu uns ins Willy-Brandt-Haus zu kommen. Herzlich willkommen, Herr Dr. Spanta und danke, dass sie hier sind.

Stellvertretend für das diplomatische Corps begrüße ich die Geschäftsträgerin der afghanischen Botschaft Frau Neda und den amerikanischen Botschafter bei der NATO Herrn Ivo Daalder.

Ich freue mich, dass Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche und weiterer Glaubensgemeinschaften unter uns sind. Stellvertretend begrüße ich den stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche Präses Nikolaus Schneider,
den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland Stephan Kramer und den Generalsekretär des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland Burhan Kesici.

Für die Bundeswehr begrüße ich Generalmajor Müllner, den Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes Oberst Kirsch und den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Reinhold Robbe.

Für die Vertreterinnen und Vertreter der Polizei begrüße ich den GdP-Vorsitzenden Konrad Freiberg und den Polizeiinspekteur des Landes Nordrhein-Westfalen Dieter Wehe.

Ich freue mich über den Zuspruch vieler Nicht-Regierungsorganisationen, die gute Arbeit in Afghanistan leisten. Den stellvertretenden Vorsitzenden des Verbands Entwicklungspolitik deutscher Nicht-Regierungsorganisationen (VENRO) Jürgen Lieser möchte ich begrüßen,
wie auch Dr. Tankred Stöbe, den Vorstandsvorsitzenden von Ärzte ohne Grenzen, stellvertretend für viele andere Vertreter der NGOs.

Auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft sind unter uns, die uns heute ihre Expertise zur Verfügung stellen. Professor Volker Perthes, den Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, begrüße ich ebenso wie die vielen Afghanistan-Experten, die hier unter uns sind.

Und nicht zuletzt begrüße ich ganz herzlich die Mitglieder des Deutschen Bundestags und des SPD-Parteivorstands. Der Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Tom Koenigs, die stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Angelica Schwall-Düren und Gernot Erler sind heute unter uns.

Egon Bahr ebenso wie Heidemarie Wieczorek-Zeul, die sich seit Jahren aktiv für Afghanistan einsetzen, möchte ich stellvertretend für viele erfahrene Politiker begrüßen.

Als abschließenden Redner unserer heutigen Konferenz möchte ich den SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier ankündigen und ebenfalls herzlich begrüßen.

Meine Damen und Herren,

das große Interesse an dieser Konferenz zeigt eins: es gibt ein enormes Bedürfnis, über Afghanistan und unser Engagement in Afghanistan zu sprechen. Das ist positiv, denn sowohl die Menschen in Afghanistan als auch die diejenigen, die dort arbeiten - also die Soldatinnen und Soldaten, die Polizisten, die engagierten Helfer der Nichtregierungsorganisationen und andere zivilen Berater -, verdienen es, dass über ihr Engagement gesprochen, vielleicht auch gestritten wird.

Ich will all jenen, die sich in und für Afghanistan einsetzen, oft unter lebensgefährlichen Bedingungen, sehr herzlich für ihr Engagement danken. Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben demokratisch gewählter Politiker in Deutschland, Männer und Frauen – die meisten sind jung und stehen am Anfang ihres Lebens – in einen bewaffneten und lebensgefährlichen Einsatz zu schicken. Wir wissen heute, dass notwendig sein kann in einer Welt, in der Diktatoren, Fanatiker, Kriegsherrn oder Terroristen, uns
und andere bedrohen. Und trotzdem: es ist nicht unser eigenes Leben, das wir gefährden, wenn wir als Politiker über solche Einsätze entscheiden. Aber es könnte immer auch das Leben unserer eigenen Söhne und Töchter sein. Deshalb ist es gut, wenn wir es uns schwer machen, solche Einsätze zu beschließen oder fortzusetzen. Aber es ist auch wichtig, den Männern und Frauen, die in solche Einsätze auf unseren Befehl oder – wenn es sich um zivile Hilfskräfte für den Wiederaufbau handelt – auf
unsere Bitte gehen, für Ihren Mut und Ihre Tapferkeit zu danken. Und Ihnen immer wieder unter Beweis zu stellen, dass wir einerseits die Grundlagen des Einsatzes gewissenhaft prüfen, andererseits – wenn wir entscheiden, den Einsatz fortzusetzen – auch fest hinter ihrer Arbeit stehen.

Und ganz ausdrücklich: ich danke auch denen, die sich kritisch zu unserem militärischen Engagement äußern. Was wir für ein armseeliges Land wären wir, wenn wir nicht auch die kritische Einmischung und das Hinterfragen unserer Entscheidungen begrüßen würden.

Ich danke namentlich der Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, die jüngst eine kluge und differenzierte Predigt gehalten hat. Klüger und differenzierter als mancher Kritiker dieser Rede. Wer, wenn nicht die Kirchen dieser Welt haben das Recht – wenn nicht sogar die Pflicht – mehr Fantasie für den Frieden einzufordern?


Ich danke auch dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Robert Zollitsch, der in der vergangenen Woche in einem Namensbeitrag in einer großen deutschen Zeitung von einer „gewaltkritischen Perspektive“ einen „gerechten Frieden“ angemahnt hat, gleichzeitig aber „Sorgfalt bei der Diskussion“ fordert.

Meine Damen und Herren,

als evangelischem Christen ist mir eine Denkschrift in Erinnerung. Es ist die Denkschrift des Rates der evangelischen Kirche von Herbst 2007. Darin steht: „… [D]ie dargelegten friedens- und rechtsethischen Grundsätze sprechen dafür, externes bewaffnetes Eingreifen als äußerstes Mittel nicht vollständig auszuschließen, die militärische Komponente jedoch strikt auf die Funktion der zeitlich limitierten Sicherung der äußeren Rahmenbedingungen für einen eigenständigen politischen Friedensprozess
vor Ort zu begrenzen.“
Weiter heißt es: „Militärische Maßnahmen müssen Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen bleiben.“ Diesen Grundsatz teile ich uneingeschränkt! Es ist ein guter Grundsatz für das politische Handeln auch der Sozialdemokratie.

Meine Damen und Herren,

im Vorfeld dieses Hearings hat es viele Mutmaßungen über den Inhalt und die Ziele einer solchen Veranstaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gegeben. Meist ging es um die Frage, ob die SPD in der Opposition den taktischen Vorteil, die Differenz zur Regierung und die Anpassung an die scheinbare Mehrheitsmeinung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sucht und sich schrittweise aus ihrer Verantwortung für den Afghanistan-Einsatz zu verabschieden.

Meine Damen und Herren,

meine Partei wird in wenigen Jahren 150 Jahre alt. Die Frage von Krieg und Frieden beschäftigt uns seit unserer Gründung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Über nichts ist in der SPD so engagiert und mit heißen Herzen gestritten worden wie über Krieg und Frieden. Und auf nichts ist die SPD mehr stolz als darauf, dass wir spätestens seit dem 1. Weltkrieg militärische Mittel in die Hände der internationalen Staatengemeinschaft legen wollen, damit kein einzelner Staat darüber entscheidet und
damit militärische Mittel die Ultima Ration bleiben, um die Freiheit und Sicherheit von Menschen zu schützen. Der Pazifismus ist eine wichtige Strömung in der SPD, aber die SPD war nie eine pazifistische Partei. Aber der Charakter militärischer Einsätze ist für die SPD seit vielen Jahrzehnten, letztlich seit den Ideen des Heidelberger Programms von 1925 der einer Art „Weltpolizei“, die dort auf der Grundlage des Völkerrechts Menschen schützen soll, wo die normalen polizeilichen Mittel nicht mehr
helfen. Letztlich ist auch unsere eigene Geschichte ein deutlicher Hinweis darauf, dass derartige Einsätze notwendig sein können. Denn ohne die Bereitschaft der USA in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzutreten, könnte es sein, dass Menschen meiner Generation in Westdeutschland unter Hitler oder Stalin groß geworden wären.

Warum sage ich das zu Beginn dieses Hearings? Weil für die SPD seit nun fast 150 Jahren die Fragen nach Krieg und Frieden keine taktischen Fragen sind. Wir haben uns bei der Beantwortung dieser Fragen nie daran orientiert, ob unsere Antworten gerade in die aktuelle politische Landschaft passen oder nicht, ob wir uns einen kleinen politischen Vorteil zu unseren politischen Wettbewerbern erhoffen oder ob wir in der Opposition oder in der Regierung waren. Und wir haben die innerparteiliche Auseinandersetzung
darüber nie gescheut. Die Nachkriegsgeschichte ist voll von Beweisen dafür: ob die Diskussion um die Wiederbewaffnung Deutschlands nach 1945 ging, um unsere Haltung zur Westbindung und der NATO, um den NATO-Doppelbeschluss oder die militärischen Auseinandersetzungen im Kosovo, in Afghanistan oder im Irak. Wir haben dazu immer auf der Grundlage von Prinzipien entschieden, nicht auf der Grundlage von Taktik. Das beste Beispiel dafür ist der Afghanistan-Einsatz selbst: Während die Vereinten Nationen eine
militärische Intervention im Irak ablehnten und der sozialdemokratische Bundeskanzler deshalb dazu mit NEIN anwortete, findet der Afghanistan-Einsatz auf einer völlig klaren völkerrechtlichen Grundlage und auf Bitte der UN statt. Deshalb standen und stehen wir dazu. Es verbietet sich für uns, einerseits die Stärkung der UN zu fordern und militärische Mittel an Entscheidungen der UN zu binden, wenn wir gleichzeitig nie und in keiner Situation bereit wären, dieser Bitte der UN auch mit eigenen
Truppenkontingenten zu folgen.

Die Prinzipien, an die wir uns deshalb auch jetzt halten wollen, lauten:

1. Der Einsatz militärischer Mittel bleibt Ultima Ratio und er muss auf der klaren Grundlage von Beschlüssen der Vereinten Nationen und des deutschen Bundestages stattfinden.


2. Die SPD steht zu ihrer internationalen Verantwortung und will deutsche Entscheidungen eingebunden wissen in die Entscheidungen unserer internationaler Partner – insbesondere in der EU. Verlässlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ist für Deutschland unverzichtbar. Niemand würde auf Deutschland hören, wenn wir uns eratisch und nach jeweiliger Stimmungslage verhalten würden.
3. Beide Prinzipien sollen dazu beitragen, dass unsere Bevölkerung versteht und akzeptiert, wenn wir Militäreinsätze der Bundeswehr durchführen. Ein demokratischer Staat braucht die Unterstützung seiner Bevölkerung gerade für derartige schwierige Missionen. Dazu gehört, dass derartige Einsätze befristet sein müssen und wir nicht Teil einer dauerhaften Intervention werden können. Und dazu gehört auch, dass wir uns dauerhaft den kritischen Fragen zu unseren Einsätzen stellen und offen und
transparent für alle antworten.

Meine Damen und Herren,

bewaffnete Einsätze, Krieg, Frieden, Völker- und Menschenrechte bleiben für uns Sozialdemokraten prinzipielle Fragen. Sie sind nicht taktischer Natur. Allerdings erwarten wir von der Bundesregierung die gleiche Haltung. Die Tatsache, dass sich die Bundesregierung nicht auf eine gemeinsame Afghanistan-Strategie einigen kann, ist völlig inakzeptabel. Mal fordert der Verteidigungsminister mehr Kampftruppen, dann sagt der Außenminister, zu einer Truppenstellerkonferenz würde er erst gar nicht anreisen. So
geht das seit Wochen hin und her. Und die Kanzlerin schweigt. Da hilft es auch nichts, wenn sie den Druck auf die eigenen Koalitionspartner dadurch erhöhen will, in dem sie behaupten lässt, sie sei mit der SPD einig. Das geht schon deshalb nicht, weil wir nicht wissen, wofür die Regierung steht.


Wir raten dringend dazu, diesen uneinigen Zustand in der Bundesregierung zu beenden. Wer ohne eigene Strategie nach London reist, sitzt dort am Ende am Katzentisch. Und wir raten auch dazu, diese Position der Bundesregierung in Abstimmung mit dem Deutschen Parlament vorzunehmen.

Wir sind nicht aus Gründen der Opposition gegen eine gemeinsame Haltung mit der Bundesregierung zur weiteren Afghanistan-Strategie. Aber wir wollen auch nicht für etwas vereinnahmt werden, über das nicht offen und für die deutsche Bevölkerung transparent mit uns beraten wurde. Die Kanzlerin ist aufgefordert, ihre Vorschläge vorzulegen und mit allen zu beraten. Wir jedenfalls sind dazu bereit.


Meine Damen und Herren,

wir wollen heute mit dieser öffentlichen und transparenten Diskussion beginnen.

Bei dieser Debatte, meine Damen und Herren, brauchen wir Ihren Rat und Ihre Expertise.

Lassen Sie micht deshalb vorab sagen: Nichts von dem, was Frank-Walter Steinmeier oder ich Ihnen heute vortragen oder in unserem Positionspapier aufgeschrieben haben, steht in Stein gemeißelt. Zu jedem Punkt sind wir zu Veränderungen bereit, wenn Sie oder andere uns dazu überzeugende Alternativen oder Argumente vorlegen.

Bitte nehmen Sie das als Aufforderung zu dem, was wir brauchen: eine kritische Betrachtung unserer Vorschläge.

Was waren die Ziele, die die internationale Gemeinschaft 2001 mit ihrem Afghanistan-Engagement verbunden hat? Im Wesentlichen geht es meiner Meinung nach um drei Aspekte:

Wir sind erstens nach Afghanistan gegangen, weil die Taliban dem internationalen Terrorismus Unterschlupf gewährten und weil sie sich weigerten, nach dem 11. September mit der internationalen Gemeinschaft zu kooperieren. Wir wollten Terroristen und die Ausbildungslager der Terroristen bekämpfen. In diesem Sinne hat Peter Struck gesprochen, als er sagte, dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde – denn nach den Anschlägen in New York, gab es weitere in London, in Madrid und an vielen anderen
Orten weltweit. Und es gab Anschlagversuche in Deutschland, die glücklicherweise verhindert werden konnten.

Wir sind zweitens auch in Afghanistan, weil ein schreckliches Taliban-Regime schlimme Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Tagtägliche Unterdrückung, unter der vor allem Frauen und Mädchen zu leiden hatten. Ein nach jahrzehntelangem Krieg und Bürgerkrieg zerstörtes Land, ohne Gesundheits-, Wasser und Stromversorgung in vielen Landesteilen.

Und drittens, zu oft vergessen: Man kann nicht über Afghanistan sprechen, ohne einen Blick auf die Gesamtregion zu werfen, die sehr instabil und hochgerüstet ist und in der unzählige Flüchtlinge unterwegs sind: Pakistan, mit seinen Atomwaffen, ist Nachbarland. Iran ebenfalls. Das heißt: Afghanistan liegt in einer Region, die nicht nur lokal und regional sensibel ist, sondern die entscheidend sein kann, wenn es um die Sicherung des globalen Friedens geht.


Zusammengefasst: Für unserer eigene Sicherheit, für unsere eigenen nationalen Interessen und aus humanitären Gründen sowie wegen der besonders sensiblen strategischen Lage kann der internationalen Gemeinschaft Afghanistan nicht egal sein.

Wir sind jetzt seit 8 Jahren in dem Land. Soldaten, Polizisten und zivile Aufbauhelfer haben unter schwierigen Bedingungen viel geleistet und viel erreicht. Vieles Gute ist vorangekommen: Den Rückzugsraum für international agierende Terroristen gibt es in Afghanistan nicht mehr. Schulen und Straßen wurden gebaut. Die medizinische Versorgung hat sich verbessert. Die Strom- und Wasserversorgung ebenfalls. Das Taliban-Regime Ist nicht mehr an der Macht, das Land hat eine neue Verfassung, erste Wahlen haben
stattgefunden. Menschenrechtsverletzungen konnten eingedämmt werden. Frauen und Mädchen haben eine Chance. Die Geschäftsträgerin der afghanischen Botschaft in Deutschland ist eine Frau – unvorstellbar noch vor wenigen Jahren. Demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen sind - trotz aller berechtigter Kritik – im entstehen.

Das sind gute Nachrichten, auch wenn die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ungenügend bleibt und die Erfolge regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sind.

Aber an vielen Stellen gibt es erhebliche Probleme. Und auch das gehört zur ehrlichen Bilanzierung hinzu. Lassen Sie mich ein paar Aspekte nennen, die natürlich nicht abschließend sind:

Erstens: Die Sicherheitslage im Land hat sich in letzter Zeit verschlechtert. Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind heftiger geworden. Die Helfer der internationalen Gemeinschaft und die afghanische Armee und Polizei haben bittere Verluste zu beklagen.

Viele Zivilisten leiden. Grad jüngst hat die UNO-Mission in Afghanistan mitgeteilt, dass 2009 mit über 2.400 toten Zivilisten „das schlimmste Jahr“ für die Zivilisten seit 2001 gewesen ist. Der Verband Entwicklungspolitik (VENRO), dessen Vertreter Jürgen Lieser später noch sprechen wird, hat deshalb massive Luft- und Artillerieschläge kritisiert, bei denen nicht zwischen Aufständischen und Zivilbevölkerung unterschieden werden kann. VENRO hat aber gleichzeitig den Hinweis gegeben - und das
gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu -, dass gerade die Aufständischen Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“ – ein schlimmer Begriff – benutzen. Deshalb sage ich: Beil aller Kritik, dürfen wir bei der Beurteilung nicht einseitig sein.

Wenn es um zivile Opfer geht, können wir in Deutschland natürlich nicht über Kundus schweigen: Der Deutsche Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, der gestern seine Arbeit aufgenommen hat und der Aufklärung über die Bombardierung der Tanklastzüge geben soll, bei der eine große Anzahl Zivilisten getötet worden sind. Es geht hier nicht um Vorverurteilungen, aber eines muss gesagt werden:
Der Ausschuss ist notwendig geworden, weil es sehr unterschiedliche Begründungen dafür gegeben hat, dass der Bombeneinsatz angeordnet wurde. Völlig getrennt davon geht es auch um die Frage, ob der heutige Verteidigungsminister dem Bundestag und der Öffentlichkeit die Wahrheit gesagt hat über seine Bewertung des Bombenabwurfes und die Entlassung des ranghöchsten Offiziers der Bundeswehr. Ich weiß, dass dies gern vermischt wird. Auch deshalb, weil die Soldaten in Afghanistan den Streit darüber wohl
schwerlich verstehen werden. Aber es kann nicht sein, dass der Einsatz in Afghanistan dazu missbraucht wird, vom Zwang zur Redlichkeit eines Regierungsmitglieds gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit abzuweisen. Aber man muss aufpassen, dass die Untersuchung dieser Frage nicht mit dem Einsatz in Afghanistan vermischt wird. Deshalb sollte diese Frage aus meiner Sicht auf diesem Hearing keine Rolle spielen.



Zweitens: Die afghanische Regierung hat große Legitimitätsprobleme. Die Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen haben Spuren hinterlassen. „Schlechte Regierungsführung“ lautet der Vorwurf. Es gibt ernst zunehmende Hinweise auf Korruption und schlimme Menschenrechts¬verletzungen durch die afghanischen Sicherheitsbehörden. amnesty international und Human Rights Watch beklagen die Gefahr von Folter und Misshandlung in afghanischen Gefängnissen und mahnen zurecht die Einhaltung der
UN-Mindeststandards zur Behandlung von Gefangenen an. Der wirtschaftliche Aufbau kommt nicht so voran, wie es notwendig wäre. Bei der Energieversorgung gibt es Probleme. Ich bin gespannt auf die Einschätzung, die uns Dr. Spanta gleich im Anschluss geben wird.

Drittens: Viele Aufbauorganisationen beklagen den zivil-militärischen Ansatz, der zwar gut gemeint sei – und meines Erachtens auch sinnvoll ist -, der aber zu einer Unschärfe zwischen Militär und Aufbauhelfern führe und damit die Aufbauhelfer gefährde. Darüber müssen wir also sprechen, vor allem, weil der FPD-Entwicklungshilfeminister Niebel angekündigt hat, die finanziellen Zusagen für Hilfswerke an ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Bundeswehr zu knüpfen. Dies ist von allen
Entwicklungshilfe¬-Organisationen heftig kritisiert worden, weil es für sie überlebenswichtig ist, nicht als verlängerter Arm der Bundeswehr angesehen zu werden. Deshalb rate ich Herrn Niebel nochmal sorgfältig nachzudenken und mit allen Betroffenen zu sprechen. Bevor die Bundesregierung falsche Entscheidungen trifft, sollte sie jedenfalls auf diejenigen hören, die in Afghanistan praktische Erfahrungen haben.

Viertens: Wir müssen uns fragen: Ziehen eigentlich alle Akteure die in Afghanistan arbeiten am selben Strang? Haben alle dieselbe strategische Ausrichtung? Die afghanische Regierung, ihre Armee und Polizei? Die internationalen Truppen und Polizisten und die NGOs? Oder gibt es konkurrierende Ansätze, ja sogar sich gegenseitig ausschließende? Das sind entscheidende Fragen, die zu klären sind, wenn wir gemeinsam Erfolg haben wollen.

Eine solche Diskussion ist nicht gegen die afghanische Regierung gerichtet, nicht gegen die Bundeswehr, nicht gegen die USA oder wen auch sonst, wie oft vorschnell unterstellt wird. Denn selbstverständlich muss es eine kritische Debatte zwischen Afghanistan und uns geben, zwischen befreundeten Verbündeten, zwischen Militär und NGOs. Deshalb bin ich sehr auf die Analysen und Einschätzungen gespannt, die wir heute hier hören werden.

Lassen Sie mich abschließend darauf eingehen, was Frank-Walter Steinmeier und ich als Diskussionsentwurf für die heutige Konferenz vorbereitet haben. Es ist ein Papier, das wir bewusst als „Entwurf eines Positionspapieres“ übertitelt haben. Denn wir wollen eine Rückmeldung, ob unsere Gedanken ihrer Meinung nach, in die richtige Richtung zeigen. Ein paar Gedanken aus dem Papier sind:

1. Über das Ziel unserer gemeinsamen Anstrengungen sind wir uns alle einig: Wir wollen die Eigenverantwortung der Afghanen stärken, damit sie mittelfristig selbst für Sicherheit und Wohlstand in ihrem Land sorgen können. Wir wollen dies in einer verantwortlichen Art und Weise tun, die die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lässt. Wir wissen: Wie die künftige innere Entwicklung des Landes sich vollziehen soll, wie die Afghanen leben wollen, das können am Ende nur sie selbst entscheiden, das
kann ihnen niemand von außen oder von oben aufzwingen.

2. Anders als unsere amerikanischen Freunde – und der US-Botschafter bei der NATO wird gleich noch Gelegenheit haben, darauf zu antworten - sehen wir aber nicht, dass dieses Ziel durch neue Kampftruppen und immer mehr Soldaten erreicht werden kann. „Der Schlüssel für eine nachhaltige Befriedung des Landes liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes“, wie wir in unserem Papier geschrieben haben. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft und eine ökonomische Perspektive sind nicht nur
humanitäre Gebote, denen wir verpflichtet sind, sondern sie machen eine Gesellschaft wehrhaft und nachhaltig sicherer.

3. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir mehr im Bereich der afghanischen Militär- und Polizeiausbildung tun müssen. Im Bereich Militär gehen wir davon aus, dass innerhalb der bestehenden deutschen Mandatsobergrenze von 4.500 Soldaten, die der Deutsche Bundestag erst gerade beschlossen hat, durch Umschichtung mehr und bessere Ausbildung möglich ist. Auch die Zahl der Polizeiausbilder muss deutlich erhöht werden.

4. Wir brauchen eine kräftige Aufstockung der zivilen Mittel. Wir brauchen das Geld, um „Gute Regierungsführung“, Menschenrechtsschutz, die Drogen- und Korruptionsbekämpfung und das Rechts- und Verwaltungssystem voranzubringen.

5. Es ist auch völlig klar, dass wir den regionalen Ansatz wiederbeleben müssen, den Frank-Walter Steinmeier als Außenminister eingebracht hat: Pakistan eng einzubeziehen, um Rückzugsräume für Al-Kaida enger zu machen, und um ein konstruktives Verhältnis zwischen Afghanistan und Pakistan zu ermöglichen. Deshalb sollte ein deutscher Außenminister sich nicht in peinlicher Kraftmeierei üben und damit drohen, nicht zur Londoner-Konferenz zu fahren, sondern endlich seinen Job machen.

6. Wir müssen mit allen Kräften in Afghanistan ins Gespräch kommen, die sich konstruktiv am nachhaltigen Aufbau des Landes beteiligen wollen. Der erste deutsche Politiker, der das übrigens gefordert hat, war der damalige SPD-Parteivorsitzende Kurt Beck.

Er ist dafür in der Öffentlichkeit und auch von den heutigen Regierungsmitgliedern verhöhnt worden. Inzwischen scheinen sogar die, die damals höhnische Kommentare abgaben, genau diese Strategie für ihre ureigene Idee zu verkaufen. Der innerafghanische Versöhnungsprozess ist ein wesentlicher Schlüssel, auch wenn wir nicht naiv sind, auch angesichts des menschenverachtenden Terrors, der jüngst in Kabul stattgefunden hat. Aber hier in der ersten Reihe sitzt Egon Bahr, der hervorragend Auskunft darüber
geben kann, was man mit „Wandel durch Annäherung“ erreichen kann. Ich bin sicher, dass Außenminister Spanta uns weiterführendes zu dieser Frage sagen kann.

Klar ist: Der amerikanische Präsident hat angekündigt, dass die USA ab 2011 mit dem Abzug ihrer Truppen beginnen werden. Das ist eine völlig legitime Ankündigung, die wir als Sozialdemokraten begrüßen.

Es sollte aber nicht nur bei der Ankündigung eines Abzugstermins bleiben, sondern wir müssen auch einen Korridor für den Abschluss des Abzugs definieren. Wir schlagen den Zeitkorridor 2013 – 2015 vor. Es muss allen beteiligten Akteuren klar sein, dass unser Engagement ein zeitlich befristetes ist. Die internationale Gemeinschaft muss deshalb zusammen mit dem afghanischen Präsident einen entsprechenden Fahrplan erarbeiten.

Die SPD vertritt eine verantwortliche Position, die die Interessen unseres Landes, die Interessen der afghanischen Bevölkerung und die Partnerschaft mit unseren Freunden und Verbündeten im Auge behält. Hierfür brauchen wir Offenheit in der Debatte, Entschlossenheit bei der Umsetzung unserer Strategie, Rückgrat, um beschlossenes auch gegen Widerstände zu vertreten und Solidarität mit all jenen, die unter lebensgefährlichen Bedingungen in Afghanistan arbeiten.


Wir laden Sie ein, sich an der Debatte zu beteiligen.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 22.01.2010 11:01.

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