Etwas vom Wahnsinn

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Etwas vom Wahnsinn

von redaktion am 16.07.2010 17:16




"... könnten wir fühlen, was wir wissen, wir würden wahnsinnig."
Etwas vom Wahnsinn

von polis-Gastautor Ulrich Kasparick





Wir sind dabei, uns umzubringen. Nur haben es die Talkshows noch nicht gebracht. Weshalb wir weiter Privatfernsehen schauen.
Dennoch, sei’s gewagt. Ein Kapitel über den Wahnsinn ist nötig. Ein Steinchen halt. Geworfen in den großen Strom.

Ein paar Grundtrends vorab:

In Zeiten, in denen sich ein Ölkonzern darüber freut, wenn eine Ölquelle endlich versiegt („Deepwater Horizont“), sei an den Weltenergieverbrauch erinnert:

- er steigt. Stark. Zunehmend schneller.

- 40% davon entstammen der Mobilität: LKWs, Flugzeuge, Schiffe, private Fahrzeuge (Kräder und zunehmend auch PKWs).

- 95% des weltweiten Verkehrs ist ölabhängig. Wir hängen am Öl wie der Yunkie an der Nadel. Obwohl z.B. in Europa schon große Metropolen mit weitgehend elektrifizierten Nahverkehrsnetzen (S-Bahn, U-Bahn etc) ausgestattet sind.

Das bedeutet: die Freude über ein geschlossenes Leck ist nicht begründet. Denn: zwar strömt das Öl nun nicht ins Meer, wohl aber strömt es weiter durch die Motoren, durch die Heizungsanlagen, durch die Chemische Industrie. Immer schneller.

Der „Worldenergie-Outlook“ der Internationalen Energie-Agentur weist aus, daß der Weltenergiebedarf weiter stark steigt. Vor allem getrieben vom Verkehr. Der seine Ursache in der Arbeitsteilung in einer globalisierten Wirtschaft hat.

Gleichzeitig gehen die Speicher der Natur zur Neige. Der Waldbestand der Welt schrumpft dramatisch.

Die Aufnahmefähigkeit der Ozeane ist begrenzt.
Der Klimawandel beschleunigt sich. Fachleute sagen, die Schäden wachsen nicht mehr linear, sie wachsen exponentiell.

Sieht man das zweistellige Wachstum der großen Volkswirtschaften, vor allem in Asien;
sieht man, daß mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in „MegaCities“ leben – was den Spruch rechtfertigt: „Die Welt lebt in der Stadt“.
sieht man, daß der Energiehunger dieser Riesenstädte weiter enorm ansteigt (durch den Klimawandel getrieben verstärkt auch für Kühlung)
sieht man, daß der Klimawandel zu einer verstärkten Landflucht der Menschen in die Riesenstädte führt

sieht man, daß die internationalen Verhandlungen zum Abschluss eines neuen Klimaschutzabkommens nicht voran kommen:
das 2-Grad-Ziel ist nicht mehr erreichbar, selbst wenn es „beschlossen“ werden sollte, denn die wirtschaftlichen Realitäten und Prozesse laufen exakt in die andere Richtung.

sieht man, daß die Politik schon längst nicht mehr Herrin des Handelns, sondern selbst Getriebene ist
(Martin Buber hatte schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf diesen Umstand aufmerksam gemacht).

dann bekommt man ein Gefühl dafür, daß wir es mit einem suizidalen, mit einem selbstmörderischen System zu tun haben.

Beinahe lächerlich wirken die Bemühungen um die Förderung der Solarnutzung angesichts dieser globalen Trends.
Sie sind wichtig, sie sind unverzichtbar.
Aber sie sind ein David gegen einen sterbenden Goliath.

Um so „tröstlicher“ ist es, wenn man sich besieht, womit sich die Menschen so befassen: sie schauen fern. Vor allem schauen sie Privatfernsehen.

Und: sie schauen weg.

Wenns auf die Seele schlägt.
Wenns einen deprimiert, was man da so hört.
Wenns nicht mehr auszuhalten ist.

Fachleute nennen das: Verdrängung.
Verdrängung ist ein notwendiger Vorgang, um die Seele einigermaßen im Gleichgewicht zu halten.
Denn: könnten wir fühlen, was wir wissen, wir würden wahnsinnig.

Dennoch: es wäre auch hilfreich, wenn wir hin und wieder fühlen würden, was wir wissen.

Was gibt Anlass zur Hoffnung?
Hoffnung worauf?
Bekannt ist, daß die Natur den Menschen nicht braucht.
Wohl aber braucht der Mensch die Natur.
Worauf es also ankäme, daß er seinen Sinn dafür wieder schärft.

Was wäre dafür nötig?
Daß er fühlt, was er weiß.

Dann wird er entweder verrückt, oder er wacht auf.

Gibt es Grund zur Hoffnung?
Die Erfahrung:

Eine Krise – und wir befinden uns wohl in der größten Krise seit Menschengedenken – zeigt eben auch dies: auf dem Höhepunkt der Krise ist die Veränderung am nächsten.
Da will vielleicht etwas umschlagen von der Zerstörung hin zum Erhaltenden.

Wenn das Fieber am höchsten ist, ist die beginnende Gesundung am nächsten.

Was nicht geht: weiter so.
Was nicht geht: das Feiern von 40% Exportwachstum bei PKWs, wie in diesen Tagen wieder zu lesen ist.
Was nicht geht: der Glaube, „die Politik“ werde es schon eines Tages richten. Die Politik ist schon längst nicht mehr Herrin des Verfahrens.
Die Wirtschaft ist es auch nicht.
Da ist ein Getriebe in Gang getreten worden, daß sich selbst immer stärker beschleunigt und das durch politische oder wirtschaftliche Kräfte kaum noch beeinflussbar erscheint.

Was ist nötig?
Hinschauen.
Wahrnehmen.
Fühlen, was man sieht.

Billiger geht es nicht.
Vermutlich ist auch dies in den Wind gesprochen.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 16.07.2010 18:11.

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