"Es geht hier ... um einen Bürgerkrieg"

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Kalmar

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Re: "Es geht hier ... um einen Bürgerkrieg"

from Kalmar on 03/22/2011 10:55 PM

Ein hervorragend durchdachter Artikel. Politik hat einen großen Nachteil, nämlich, dass sie von Politikern gemacht wird, die meistens nicht viel mehr können als Politik zu machen.

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redaktion
Admin

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Posts: 2408

"Es geht hier ... um einen Bürgerkrieg"

from redaktion on 03/22/2011 09:16 AM




"Es geht hier ... um einen Bürgerkrieg"
von Michael Kraus



Facebook-User Michael Kraus antwortet in einem FB-Thread einem Befürworter des Kriegseinsatzes westlicher Staaten zur Unterstützung Aufständischer gegen das Gaddafi-Regime.

1) Es geht hier nicht um "den Aufstand eines unterdrückten Volkes gegen seinen diktatorischen Herrscher", sondern um einen Bürgerkrieg. Ich weiß nicht, warum ich persönlich mich dort auf eine Seite stellen soll, da beide Parteien abscheuliche Züge aufweisen: Ihre "großartigen" Rebellen im Osten Libyens zum Beispiel beteiligen islamistische Kräfte stark an ihrem Aufstand, dort werden Schwarze aus rassischen Gründen verfolgt (Gaddafi hat schwarze Söldner angeheuert, daher wird nun in rassistischem Kollektivismus Hatz auf Schwarze gemacht), wird eine reaktionäre Stammesgesellschaft in monarchischem Gewand angestrebt. Demgegenüber hat das Regime weitgehende Gleichberechtigung von Mann und Frau durchgesetzt und einen hohen sozialen Standard - es gibt eine vergleichsweise hervorragende soziale Versorgung, ein gut ausgebautes Bildungssystem fast ohne Analphabetismus, stattdessen hunderttausende Gastarbeiter/innen, die vom Öl und Gasreichtum des Landes profitieren. Auch ließ das Gaddafi-Regime riesige Rohrleitungen zur Wasserversorgung Nordafrikas anlegen. Die "Rebellen" im Osten des Landes wollen - allem nach, was wir wissen - vor allem selbst mehr vom Reichtum abhaben. Ums Teilen geht es ihnen nicht. Dass Gaddafi irre Züge aufweist, dass er eine Diktatur errichtet und seinen Clan bereichert hat, dass er sich nun mit Gewalt an die Macht klammert, mag alles stimmen. Von mir aus muss er auch gehen. Aber die andere Seite ist nicht besser.

2) Mir ist noch nicht einmal klar, ob Gaddafis Kampfjets, die Aufständischen oder die NATO-Jets mehr Zivilisten auf dem Gewissen haben. Das weiß derzeit niemand. Bei den letzten Kriegen hat die NATO stets mit Abstand am meisten Leute umgeb...racht: ob im Kosovo, im Irak oder Afghanistan. Die Kriegseinsätze haben das Leid stark vergrößert und keinerlei Fortschritt gebracht. Im Irak sind die Menschen heute überwiegend schlechter versorgt als unter Saddam Hussein, die Frauen haben aufgrund einer Re-Islamisierung fast nichts mehr zu melden, Minderheiten werden brutal verfolgt (zum Beispiel die Christen und Juden) und wirtschaftlich geht nichts voran. Die angeblich frei gewählten Parteien werden - sofern sie nicht besatzerfreundlich sind - mit Gewalt von der Regierung abgehalten oder gleich liquidiert. In Afghanistan wird offen zugegeben, dass man eine brutale Clanherrschaft etabliert hat, dass der Präsident und sein Clan hochkorrupt sind und die letzte "Wahl" massiv gefälscht wurde. Den Frauen geht es fast schon wieder so schlecht wie unter den Taliban. Und von der Schreckensherrschaft der hochkriminellen UCK im Kosovo - die sich laut BND und BKA durch Frauen-, Waffen-, Drogen- und Organhandel finanhziert - brauche ich hier wohl nichts weiter zu schreiben. Das ist inzwischen Allgemeingut. Selbst in Ost-Timor, wo es viele Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft gab und die Menschen sich die Freiheit friedlich erkämpft haben, ist die Situation desaströs. Es gibt kein Beispiel für eine erfolgreiche "humanitäre Intervention".


‎3) Warum ist das so, dass die "humanitären Interventionen" regelmäßig nach hinten losgehen? Weil Krieg kein Allheilmittel ist, sondern - laut Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz in seinem Standardwerk "Vom Kriege" - nur "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" darstellt. Wenn man also vor dem Krieg keine vernünftige politische Lösung in Aussicht hat, und die gab es weder im Kosovo noch im Irak oder Afghanistan, und schon gar nicht in Libyen, dann sollte man auch keinen Krieg anfangen. Denn gemäß Clausewitz ist es einfach, einen Krieg zu beginnen, aber schwer, ihn zu guten Bedingungen zu beenden. Man braucht eben schon vorher eine politische Lösung für hinterher und die entsprechenden Kräfte, die diese dann vertreten. Dies ist in Libyen überhaupt nicht in Sicht, zumindest sehe ich keine demokratischen menschenrechtlichen Kräfte, die uns immer wieder angepriesen werden, und vor allem auch überhaupt keine Mehrheiten in der Bevölkerung dafür. Der Großteil der Libyer und auch der Streitkräfte hat sich dem Aufstand im Osten offensichtlich nicht angeschlossen, sonst hätte der Kampf gegen das Regime erfolgreich geendet wie in Ägypten. Warum? Weil die libyische Regierung offenbar die Leute besser behandelt als die ägyptische. Das mögen Leute wie Sie ungern hören, es ist aber offensichtlich so. Die Libyer sind nicht dumm oder ungebildet, ganz im Gegenteil. Auf dem "Human Development Index" der Vereinten Nationen belegt Libyen den Spitzenplatz unter den afrikanischen Nationen, und liegt nur unbedeutend hinter den vier reichen arabischen Golfstaaten, im vorderen Drittel der Staatenwelt.

‎4) Was wollen die NATO-Staaten eigentlich, warum sind sie plötzlich für einen Regimesturz, während sie in Tunesien und Ägypten zunächst diesen verhindern wollten und bis heute sehr zögerlich sind? Weil Gaddafi kein prowestliches Regime err...ichtet hat, sondern einen Wohlfahrtsstaat, der vor allem der einheimischen Bevölkerung nützt. Würde der Westen dort eine hörige, von ihm abhängige Regierung wie im Irak, in Saudi-Arabien oder - bis vor kurzem - in Ägypten und Tunesien errichten, wären viele soziale Wohltaten schnell beendet. Denn der Westen macht überall Druck für marktradikale Reformen, von denen die große Mehrzahl der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen nur Negatives zu erwarten hat. Warum wohl stand die Mehrheit des Volkes sowie der Armee in Tunesien und Ägypten auf Seiten der Aufständischen, die übrigens mit fast nur friedlichen Mitteln vorgegangen sind, während die bewaffneten Clans in Ost-Libyen offenbar nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und der Armee für sich mobilisieren können und von vorne herein auf Gewalt gesetzt haben? Die NATO will Gaddafi stürzen, um ein prowestlicheres Regime einzusetzen – und wenn das nicht gelangt, dann zumindest ein monarchistisches Protektorat im Osten Libyens (Cyrenaika) herbeibomben, um den Großteil der Öl- und Gasvorräte unter ihre Kontrolle zu bekommen. Sozialen und politischen Fortschritt müssen die Menschen in ihrem Land, in ihrer Kultur selbst erkämpfen. Es gibt historisch kein einziges Beispiel dafür, dass von außen selbstlos eine bessere Ordnung etabliert wurde. (Nein, auch nicht die Alliierten nach dem Nazi-Regime.) Besatzer vertreten alleine ihre eigenen Interessen. Wenn dies zum Vorteil der einheimischen Bevölkerung führt, ist das reiner Zufall oder ein kurzfristiges Kalkül, auf keinen Fall jedoch die selbstlose Absicht der Besatzungsmacht.

Reply Edited on 03/27/2011 02:44 PM.

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