Eine andere Seite Tel Avivs

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Eine andere Seite Tel Avivs

von redaktion am 23.05.2011 09:33




Eine andere Seite Tel Avivs
Report aus dem Süden der Stadt

von polis-Gastautor Klaus Lederer


Klaus Lederer

Tel Aviv ist eine wunderschöne Stadt. Das Weltkulturerbe der Bauhaus-Architektur, von der
UNESCO anerkannt, ist traumhaft. Liberalität und Weltoffenheit kennzeichnen Tel Aviv wie keinen
anderen Ort in Israel. Menschen unterschiedlichster Herkunft, Lebensweise und Kultur werden von
der Stadt angezogen, lassen sich nieder und leben hier, genießen das geschäftigte Treiben in den
Straßen, die vielfältigen Freiräume und Möglichkeiten. Ich mag es, in einer lauen Sommernacht den
Rothschild-Boulevard im südlichen Zentrum entlang zu flanieren. Viele andere mögen das auch. Es
treffen sich dort Menschen aus der ganzen Welt, die Tel Aviv lieben. Das großartige Flair, die
entspannte Stimmung inmitten dieser Alleemeile, ist kaum mit Worten wiederzugeben.

Viele der Menschen, die einander dort begegnen, kennen das Haus in der Finnstreet Nr. 1 überhaupt
nicht, das sich kaum 10 Fußminuten entfernt, im Stadtteil Neve Sha´anan, befindet. Neve Sha´anan
gehört zu den für Tel Aviver Verhältnisse ärmeren Gegenden mit für viele überhaupt bezahlbaren
Mietpreisen. Im Haus Finnstreet 1 befinden sich auf zwei Etagen unzählige Räume, sämtlich abgehend
von einem Flur. Sie sind nur einige Quadratmeter groß, ohne Toiletten oder Kochgelegenheiten, haben
kaum Fenster, eher kleine Luken. An die Türen dieser Räume sind knallrote große Zahlen gemalt.

Gleich hinter der Eingangstür, im dunklen Korridorbereich, kann man lesen: „900“. In der ersten Etage
stehen andere Zahlen. „1.600“ oder „1.900“. Das Haus ist völlig heruntergekommen, ähnelt eher
einem verlassenen Gewerbeschuppen. Sein Innenhof eine einzige Müllhalde. Wofür stehen die
Zahlen? Sie stehen für den Monatspreis in Shekel (5 Shekel entsprechen in etwa einem Euro), den
diejenigen zu entrichten haben, die die Räume gemietet haben und bewohnen. Und es sind nicht selten
8 oder 10 Menschen, die sich einen solchen Raum teilen. Gezahlt wird in bar, wer nicht zahlen kann,
fliegt sofort raus.

Die Menschen, die in diesen Räumen wohnen, sind Flüchtlinge aus Dafur oder Eritrea. Jeder Mensch
in Europa, der halbwegs an den weltpolitischen Entwicklungen interessiert ist, weiß, was sich dort
abspielt. Im vergangenen Jahr haben 10.000 Flüchtlinge Israel erreicht. Die Seewege nach der
„Festung Europa“ sind mehr denn je versperrt. Aber der Landweg, um den furchtbaren Verhältnissen
zu entkommen, ist nicht weniger gefährlich. Während jährlich hunderte Flüchtlinge bei dem Versuch
ertrinken, auf „Seelenverkäufern“ von Schleppern den Weg zur Insel Lampedusa oder nach Malta zu
nehmen, versuchen es andere durch die Wüste Sinai. Menschenhändlerbanden erpressen um die
10.000 Dollar für eine Schleusung. Oder sie kidnappen Flüchtlinge, halten sie in Wüstengefängnissen
fest, wo sie – um von ihren Angehörigen Geld zu erlangen – geschlagen, vergewaltigt, an ihren
Gliedmaßen aufgehängt, mit Elektroschocks oder Wasserentzug in glühender Sonne gefoltert werden.
Der Menschenhandel ist ein einträgliches und gnadenloses Geschäft. Es hat sich hier eine richtige
Industrie entwickelt, die durch die Abschottung Europas von den Flüchtlingsströmen Afrikas boomt.
Trotzdem nehmen immer neue Flüchtlinge diesen Weg – weil für sie nichts zählt, außer dem Terror in
Eritrea oder Dafur zu entkommen. Viele von ihnen hatten wenig und haben nun überhaupt nichts
mehr.

Und die meisten von ihnen, die es durch die Wüste Sinai schaffen, landen in Tel Aviv. In Israel wird
ihr Aufenthalt geduldet. Alle 3 Monate muss er erneut registriert werden. Irgendwelche Ansprüche
haben diese Menschen nicht, obgleich es Menschenrechte gibt. Sie erhalten keine Arbeitserlaubnis,
um sich ernähren zu können. Sie haben keinerlei Zugang zu medizinischer Betreuung oder zu Bildung.
Viele von ihnen wissen nicht einmal, wie eine Verkehrsampel funktioniert. Sie können sich nicht in
einer der gängigen Sprachen im Land verständigen. Zunächst müssen sie in der Botschaft des Landes,
dem sie entkommen sind, ihre Identität bestätigen lassen. Ohne Paß keine Registrierung. Diese
Flüchtlinge sind rechtlos und weitgehend unerhört, gewissenlosen Ausbeutern ihrer Arbeitskraft
schutzlos ausgeliefert. Sie verkaufen in den Häusern in der Finnstreet ihre Körper, sind zu illegalen
oder halbillegalen Erwerbsmethoden gezwungen, müssen sehen, wie sie sich über Wasser halten.
Manche von ihnen schlafen in den Grünanlagen der Nachbarschaft, suchen nach Tagelöhnerjobs. Aber
auch dieses Geschäft mit ihrer Not ist sehr einträglich. Und es ist meistens ebenfalls illegal.
Doch trotz aller Offensichtlichkeit dessen, was sich im Haus in der Finnstreet abspielt, geschieht
nichts. Jeder kann in das Haus gehen und sich anschauen, was dort vor sich geht. Wenn er oder sie
weiß und wissen will, was dort vor sich geht. Tel Aviv ist eine Stadt mit einer relativ offenen und
demokratischen Atmosphäre. Die Regierung lässt die Stadtverwaltung mit dem Problem nicht nur
allein, die Stadtverwaltung hat auch andere Prioritäten. Sie liegen in der Verschönerung und
Attraktivierung des Zentrums und seiner Anziehungskraft, mit allen damit verbundenen Problemen
auch für diejenigen, die dort seit Jahren leben.

Die rechtsgerichteten politischen Kräfte in Israel dagegen nutzen die Missstände, die im Süden der
Stadt herrschen und zunehmen, mit aller Intensität, um die von den neuen sozialen Problemen und
Konflikten betroffenen ärmeren Tel Aviver Menschen in den Quartieren im Süden der Stadt gegen die
Migranten und Flüchtlinge in Stellung zu bringen. Es werden Bürgerwehren initiiert, an die sich alle
wenden können, die sich dadurch bedroht fühlen. Und da die Menschen in Tel Aviv sich nicht in
großer Menge zu Demonstrationen beteiligen, die die „Reinigung Tel Avivs von Fremden“ fordern,
werden Menschen aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten mobilisiert, um den Platz zu füllen.
Die Auseinandersetzung um den Charakter Tel Avivs als weltoffene und demokratische Metropole ist
ein Kampf um Hegemonie, eine Auseinandersetzung mit hoher Symbolwirkung für die nationale
Ebene. Tel Aviv passt der Rechten Israels nicht. Es geht um zentrale innenpolitische Fragen, zu deren
Entscheidung hier Exempel statuiert werden müssen. Im Negev befindet sich auf der Höhe der
Wüstenstadt Mizpe Ramon, in der Nähe der Grenze zu Ägypten, weit entfernt von den Städten und der
Infrastruktur Israels, ein Asylcamp für 2.000 Flüchtlinge. Ein weiteres ist im Bau. In ihm sollen 8.000
Menschen Platz finden. Sie sollen, so postuliert die Regierung Netanjahu-Lieberman, „offene
Einrichtungen“ sein. Aber was sind offene Einrichtungen inmitten einer Wüste?

86 % aller geflüchteten Menschen aus Eritrea weltweit sind als Flüchtlinge statusmäßig anerkannt. Die
israelische Regierung und die sie stützenden politischen, rechtsgerichteten Kräfte fördern einePerspektive,
die die regressive Gewährung ihrer grundlegenden Rechte legitimieren soll. Sie werden als „Infiltratoren“
von Al Qaida, also als kollektives Sicherheitsrisiko, oder als„Wirtschaftsflüchtlinge“, damit als Gefährdung der
sozialen Stabilität des Gemeinwesens, definiert.Die Parole lautet folglich: Diesen Menschen soll jeder „Anreiz“
genommen werden, aus Dafur oder Eritrea zu verschwinden und sich auf die risikoreiche Suche nach
existenziellen Alternativen zumachen. Sie sollen sich dort in ihr Schicksal fügen.

Wir kennen diese Argumentationsmuster von Seiten der Rechten und der „Mitte“ in Deutschland. Wo viele
Flüchtlinge aufgrund der „Drittstaatenregelung“ in der „Festung Europa“ niemals die Chance haben
anzukommen. Wir kennen diese Argumentationsmuster von den rechtsgerichteten Kräften oder Koalitionen
in Italien, den Niederlanden, Frankreich, Dänemark – und die Liste ließe sich in Europa mit seiner erstarkenden
Rechten noch deutlich verlängern. Aber was bedeutet dieses Argumentationsmuster für die konkrete
Situation, in der Flüchtlinge in Israel zukünftig leben sollen, legen wir allein ihre gegenwärtige Situation zugrunde?

In den reicheren Ländern des Nordens werden Flüchtlinge und auch ArbeitsmigrantInnen von den
herrschenden politischen Kräften nur selten als Subjekte betrachtet. Deshalb gibt es auch kein
Interesse, ihnen die zur Gestaltung ihrer eigenen Lebenssituation notwendigen Möglichkeiten
einzuräumen, sie zu unterstützen. Nur Unvermeidliches wird unternommen, wenn entsprechender
öffentlicher Druck entwickelt werden kann. Im Mittelpunkt stehen die Probleme, die die
Flüchtlingssituation in der Aufnahmegesellschaft – und dort vornehmlich in den ohnehin schon
benachteiligten Quartieren und sozialen Verhältnissen – bereitet. Deshalb werden aus Menschen im
herrschenden gesellschaftlichen Diskurs „Probleme“. Diskutiert und verhandelt wird nicht mit ihnen,
sondern über sie – als Risiko, als Bedrohung. Was es rechtfertigt, ihnen die notwendigen
grundlegenden sozialen Gestaltungsmöglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben zu verweigern.
Menschenrechtsfragen allerdings verbinden sich mit dem Selbstverständnis moderner Demokratien
geradezu konstitutiv. Deshalb bedarf es gesellschaftlicher Hegemonien und Stimmungen, die die
Reduzierung der Menschenrechtsgewährung in Bezug auf diese Menschengruppen erlaubt, ohne
diejenige Aufmerksamkeit zu erfahren, die Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt in
den Schlagzeilen, auf den Bildschirmen und in den diplomatischen Noten des Nordens regelmäßig
auslösen. Diese Hegemonien und Ausblendungen bedürfen eines gewissen ideologischen und
politischen Aufwands – überall auf der Welt, auch in Israel und im Süden Tel Avivs. Das erst erlaubt
vielen Regierungen des Nordens, Menschenrechtsverletzungen anderenorts anzuprangern, ohne
gleichzeitig die eigenen menschenrechtlichen Defizite bearbeiten zu müssen. Eine krude Schieflage
der menschenrechtlichen Perspektive in den reichen Ländern des Nordens, in denen – trotz aller
sozialen Spaltung – nach wie vor die meisten Menschen zu den Gewinnern der globalen
Ungerechtigkeiten gehören. Die massive Steigerung der Flüchtlingszahlen in Israel in jüngerer Zeit,
vergessen wir das nicht und wiederholen wir das daher hier erneut, ist die unmittelbare Folge einer
verschärften Abschottungspolitik der europäischen Staaten.

Szenenwechsel. Drorstreet 9, Jaffa. Hier befindet die Zentrale der Menschenrechtsorganisation
„Physicians for Human Rights“ (PHR), sowie deren Klinik zur Behandlung von Menschen, die in
Israel keine Möglichkeit einer gesundheitlichen Betreuung haben. Wir treffen dort Ran Cohen, den
Direktor der Organisation, die Krankenschwester Alicia, die seit drei Jahren freiwillig in der Klinik
arbeitet, weitere Aktivistinnen und Aktivisten. Unter ihnen drei Flüchtlinge aus Eritrea, die sich in der
(unter anderem sprachlichen) Vermittlung zwischen PatientInnen aus dieser Flüchtlingscommunity
und den über 50 ebenfalls freiwilligen ÄrztInnen engagieren, weil sie gut englisch beherrschen.
Behandelt werden in dieser Klinik, unterstützt vom UNHCR, alle Menschen, die es brauchen:
ArbeitsmigrantInnen, deren Krankenversicherung nicht eintritt oder die um diese Frucht ihrer Arbeit
gebracht worden sind, weil sie Sprachbarrieren oder Bürokratie nicht überwinden können.
Palästinenserinnen und Palästinenser, die aus den besetzten Gebieten nach Israel fliehen mussten, weil
sie mit den israelischen Behörden zusammengearbeitet haben oder auch nur wegen einer solchen
Aktivität verleumdet wurden, weil sie lesbisch oder schwul sind und ihr Leben dort deshalb in Gefahr
ist.

Die öffentlichen Gesundheitsdienste in Israel leisten ihnen nur akute lebensrettende Hilfe. Nur: was
heut noch nicht akut ist, kann es bereits zwei Wochen später sein. Besondere Schwierigkeiten haben
Menschen mit chronischen Erkrankungen. Mitunter kommen 70 oder auch 120 Patientinnen und
Patienten am Tag, um sich dringend nötige Hilfe zu holen. PHR versteht sich nicht als
Wohlfahrtsverein, sondern explizit als politische Menschenrechtsorganisation. Die Ärztinnen und
Ärzte, auch die vielen anderen Freiwilligen sind nicht bereit, ein Problem mehr schlecht als recht und
ersatzweise zu lösen, das nur politisch und grundsätzlich gelöst werden kann und muss – durch die
Gewährung sozialer Menschenrechte auf das Notwendigste, Existenzielle, unabhängig vom jeweiligen
politischen Status.

In ihrer Tätigkeit sammeln die AktivistInnen Erfahrungen, die sie benötigen, um aufzuklären, Druck
zu machen, zu skandalisieren, Veränderung einzufordern. Sie waren es, die die Foltermethoden der
Menschenhändler in der Wüste Sinai aufgedeckt haben – aus den Erzählungen von Menschen, die
vermittelt über die Klinik Abtreibungen vornehmen, Schusswunden, Brüche und andere schwere
Verletzungen behandeln lassen mussten. Sie haben ihnen anvertraut, was ihnen widerfahren ist. Und
sie haben über sie eine Stimme gefunden, auch die Kraft, sich selbst zu organisieren, füreinander
einzustehen.

Die Hilfe, die PHR leisten kann, ist angesichts der zunehmenden Probleme mehr oder weniger eine
symbolische Hilfe. Für die notwendigen Standards einer umfassenden medizinischen Betreuung der
Patientinnen und Patienten fehlen ohnehin die Möglichkeiten. So blieb an manchen Tagen nur die
Schließung der Klinik, der Transport der Menschen in die Notfallstationen der umliegenden
Krankenhäuser – mit der Folge ihrer sofortigen vollständigen Blockade – als Ausweg, um die
Überforderung der Aktivistinnen und Aktivisten in öffentliche Aufmerksamkeit und politischen Druck
zu wandeln. Im Mittelpunkt steht die Perspektive der Menschen, die die soziale Unterstützung
benötigen.

PHR steht unter starken Druck einer rechtsdominierten Gegenöffentlichkeit. Seit Jahren nimmt der
Rassismus, der von den herrschenden Eliten ausgeht, zu. Es gibt öffentliche Aufrufe aus der Mitte der
Gesellschaft, die Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt voranzutreiben, nicht mehr an arabische oder
afrikanische Menschen zu vermieten. Im Umfeld der Klinik in Jaffa finden seit einigen Jahren massive
Gentrifizierungs- und Segregationsprozesse statt, die den Charakter des Ortes als vormalig arabisch
bewohntes und geprägtes Quartier deutlich verändern. Viele ziehen weg, weil sie sich die rasant
steigenden Kosten dort nicht mehr leisten können. Es zieht die urbane Mittelklasse ein, mit gänzlich
anderen Vorstellungen von Lifestyle, Infrastruktur und Miteinander in der Nachbarschaft. Es findet
eine ausgrenzende Aufwertung des Gebietes statt. Die neuen Nachbarn stört die Klinik, wo vor einem
großen Tor nicht selten sehr viele Menschen darauf warten, behandelt zu werden – was sichtbar und
hörbar ist. Es wird schwerer für die Klinik und das Hauptquartier von PHR, die für ihre Arbeit 2010
den Alternativen Nobelpreis erhalten haben.

Nach unzähligen Gesprächen an diesem Freitag, nach einem längeren Spaziergang durch das Viertel –
mit vielen interessanten Details und Erfahrungen zu den Lebensbedingungen und Lebensabläufen der
Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedlicher Herkunft und mit sehr unterschiedlichem sozialen
und politischen Status – landen wir schließlich in einem recht einfachen Lokal, in dem Menschen aus
Eritrea mit ihren traditionellen Gerichten andere bekochen. Es ähnelt mehr einem Vereinsraum oder
einer Garküche als einem klassischen Restaurant, wie es davon im Zentrum Tel Avivs unzählige gibt.
Wir Gäste aus Berlin erwecken hier ein besonderes Interesse. An einer längeren Tafel sitzen wir Alle
miteinander noch zwei Stunden bei Brot, Fleisch und Gemüse, wie es in Eritrea zubereitet wird.
Gegessen wird hier mit den Händen. Bei Wasser, Kaffee und äthiopischem Bier ist das die nun
notwendige körperliche Stärkung, die uns die das Erlebte zu verarbeiten überhaupt erst ermöglicht.
Unsere Tel Aviver Gastgeber aus Eritrea erzählen, wie sie sich selbst organisiert haben, in einem Rat
der Flüchtlinge aus Eritrea, um einander Hilfe zu leisten und sich einzumischen, ihre Bedürfnisse und
Interessen auch öffentlich zu bekennen und zu vertreten. Haile, der Vorsitzende des Rates, erklärt uns,
dass diese Solidarität und das Miteinander zwar nur kleine Erfolge erzielt, für das Selbstbewusstsein
und die öffentliche Hörbarkeit der Community aber unabdingbar ist. Es gibt im Quartier ein selbst
organisiertes soziales Zentrum und eine kleine Infrastruktur, die es auch den Neuankömmlingen
erlaubt, nicht bei weit „unter Null“ zu beginnen oder angesichts der Schwierigkeiten der
Flüchtlingsexistenz ins Bodenlose zu fallen – ohne jede Hilfe und Unterstützung. Die Flüchtlinge sind
vernetzt mit den Aktivistinnen und Aktivisten von Ran Cohen und der PHR. Aber inzwischen auch
darüber hinaus, mit „A City for All“ und anderen mehr, um mit politischen Aktionen in Erscheinung
zu treten. Vor allem aber sind wir Alle uns inzwischen vertrauter geworden. Es werden persönliche
Hintergründe, Engagements, Interessen, Erfahrungen nachgefragt. Der dominierende Ernst des
Vormittags ist einer lockeren, herzlichen Atmosphäre gewichen. Es wird gewitzelt und gelacht, und
das trotz der Erlebnisse, die uns nach wie vor beschäftigen.

Wir haben eine andere Seite Tel Avivs kennengelernt. Eine Seite, die aber dazu gehört, ohne die
unsere Sicht auf eine wunderbare Stadt nicht rund wäre, sondern verklärend und wohl auch ignorant.
Es hat sich einmal mehr bestätigt, was wir bereits am gestrigen Tag im Workshop mit den
Aktivistinnen und Aktivisten von „A City for All“ immer wieder konzediert hatten: Linke Stadtpolitik
bedeutet, gemeinsam mit den Leuten sehr konkrete Antworten auf sehr konkrete und widersprüchliche
Fragen zu suchen und zu finden, die sie bewegen. Es bedeutet, gemeinsam aktiv zu werden und zu
mobilisieren, anstatt sich der Richtigkeit und Wahrheftigkeit der eigenen ideologischen Perspektive in
sehr abstrakter und wenig zu den realen sozialen Verhältnissen in Beziehung stehender Weise immer
wieder neu (und nicht selten anhand sehr holzschnittartiger und überlebter) Kriterien zu versichern.
Letzteres ist nicht links, sondern ausschließlich folgenlose und nicht selten fatale Selbstbestätigung.
Die Arbeit geht weiter, anhand vergleichbarer Konflikte und Widersprüche – ob in Tel Aviv oder
Berlin.

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KLaus Lederer ist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (MdA), DIE LINKE-Landesvorsitzender Berlin und Rechtsanwalt.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 23.05.2011 10:21.

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