Ein Abgesang

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Ein Abgesang

von redaktion am 21.01.2011 18:16




Ein Abgesang
von polis-Gastautor Thomas de Torquemada

Alterstarrsinn nennt man es also nun. Die Zeitungen berichten. Es hat mal wieder Krach
gegeben, in Berlin, in der Koalition. Worüber? Natürlich, ums Geld, was sonst. Um eine
Steuererleichterung, die für die einen kaum ein Tropfen auf den heißen Stein ist, umgekehrt
den Kohl auch nicht mehr fett macht. Alterstarrsinn ist es also, welcher Finanzminister
Schäuble daran hinderte sein placet zur Erhöhung der Werbungskostenpauschale zu geben,
einer Änderung, die sich mit guten 500 Mio. Euro als Belastung im Budget niederschlägt (wie
lächerlich gering bei ungezählten Milliarden, mit welchen man ansonsten üblicherweise
hantiert), und dem einzelnen sage und schreibe sieben Euro jährlich in die Kassen spült – alles
in allem also Peanuts. Und dennoch schlagen die Wellen hoch. Denn ausnahmsweise ist etwas
anders als ansonsten, wenn im Berliner Regierungsviertel die Fetzen fliegen, wenn der
Haussegen über dem koalitionären Ehebett schiefhängt. Statt des üblichen Gezänks zwischen
den Parteien richtet sich der Unmut aller gegen einen: den alterstarrsinnigen Schäuble.
Welcher ein solches Theater macht, wo doch jedem bekannt ist, daß das, was großartig als
Steuervereinfachung gelobt wird, im Ergebnis das ist, was man früher bereits einmal Peanuts
nannte.

Zu einem nicht näher im voraus zu definierenden Zeitpunkt erlangt ein Gemeinwesen einen
Status, zu welchem, einer Klimax der Entwicklung gleich, die weiter vorwärts treibenden
Kräfte der Veränderung im Verhältnis zu den auf Erhaltung des status quo gerichteten Kräfte
im Gleichgewicht stehen, im nächsten Augenblick dann aber beginnen, zunehmend an Einfluß
zu verlieren. Das Gemeinwesen beginnt unmerklich im reinen Erhaltungstrieb zu erstarren,
der stillschweigende Konsens der Mehrzahl bestimmender Interessengruppen beschränkt sich
zunehmend darauf, das Haben zu verteidigen, ohne zu bemerken, daß diese Haltung nicht nur
die Erosion des status quo nicht aufhalten kann, sondern sogar beschleunigt. Das
Gemeinwesen kippt vom Konservatismus zu einer reaktionären Grundstimmung. Ab diesem
Kulminationspunkt verliert das Gemeinwesen die Fähigkeit, das System aus dem System
heraus zu erneuern.

Diesen Punkt haben wir schon längstens überschritten. Wahrscheinlich ist dieser Punkt
irgendwo in der Ära Kohl zu finden. Und auch die Anstrengungen Schröders belegen nichts
anderes, da ein wirklicher Umbau der Gesellschaft, unter Beteiligung der Eliten, unter
Verzichtsleistung auch der Eliten weder gewollt noch gekonnt war. Schon damals war das
System derart festgefügt - und durch diese "Reform" der status quo noch tiefer zementiert
worden, als daß man über das Herumdoktern an Symptomen hinaus tatsächlich Hand an die
Wurzel des Problems gelegt hätte. Im Gegenteil, durch die feste Fügung der eingeschliffenen
Ordnungsorgane im weitesten Sinne, nämlich den unbedingten Willen, aller am
Entscheidungsprozeß beteiligter Interessengruppen, die eigenen Interessen möglichst
weitgehend zu wahren, wurden die Reformmöglichkeiten und -wille derart abgeschliffen, daß
eine Gefahr des Verlustes am status quo von vornherein vermieden wurde.

Was aber hat das alles mit dem vorgeworfenen Alterstarrsinn eines Mannes auf der einen, mit
dem Durchsetzen eines Steuerreförmchens auf der anderen Seite zu tun?

Nun, an nichts anderem als an diesem lächerlichen Streit zeigt sich deutlicher, wie unfähig
das System geworden ist, sich aus sich selbst heraus zu erneuern und zu reformieren.
Es zeigt, wie eng die Fahrrinne des Staatsschiffes geworden ist, wie wenig
Handlungsspielraum noch bleibt. Es zeigt, daß die Zeit der Möglichkeit großer, struktureller
Reformen schon längst vertan ist.
Es zeigt, daß es letzten Endes schon zu spät ist.

War vor geraumer Zeit noch die Rede von der großen Reform des Steuersystems, so geht es
jetzt um Steuerentlastungen von wenigen Euro monatlich. Die Frage der Steuerreform aber ist
symptomatisch. Ansatzpunkt sollte nicht primär die Steuerentlastung sein, sondern die
Vereinfachung und Transparenz des Steuersystems ans sich. Alles andere hätte sich dann von
selbst Zug um Zug ergeben.
Doch es kreiste der Berg seit Jahr und Tag - und gebar eine Maus.
Nicht allein das Steuersystem, das System an sich hat zwischenzeitlich eine solche
Wucherung von Kompliziertheit erreicht, daß es über die Maßen hemmend wirkt, ohne daß
irgendjemand einen wirklichen Willen hat, hieran etwas zu ändern, da über den
Gewöhnungseffekt neben der Angst des Verlustes und der Beherrscharkeit auch die
Erkenntnis hinzutritt, daß man gerade aufgrund der Kompliziertheit des ganzen erhebliche
Möglichkeiten gewinnt, die Maschine im Sinne der Wahrung eigener Interessen zu hemmen.
Insofern ähneln unsere Zustände weniger antiken Vorbildern a lá Brot und Spiele, als
vielmehr dem Gewurschtel der K.u.k. Monarchie vor 1914: Verwaltung des status quo, aber
keine Fortentwicklung, zwecks Vermeidung des Verlustes von Pfründen.
Es fehlt der Mut, es fehlt der Wille, es regiert die Angst vor Verlust.

Mag man Schäuble Alterstarrsinn vorwerfen, mag man ihn mögen oder nicht, so kämpfte er
für Stringenz, und damit für übergeordnete Interessen von Dauer. Was ihm vorzuwerfen ist,
ist allein die Tatsache, daß er verkennt, daß in dem Zeitpunkt, da er diesen Kampf aufnahm,
es für grundlegende Lösungen, die auf Dauer gerichtet sind, schon zu spät war, die Ohren
anderer hierfür schon allzu lange taub geworden. So ist er wirklich der moralisch siegende,
aber gerade deshalb tragische, scheiternde Held: zu spät, zu spät.
Demgegenüber hat sich das, was man früher Kamarilla nannte, erneut durchgesetzt:
Im System, wie in unserem Lande Politik gemacht wird, hat das kurzfristige, aber alles in
allem Nutzlose gewonnen. Natürlich kann man im Sinnes dessen, was Kabinettspolitik,
Kompetenzgerangel, Eifersüchteleien um politischen Einfluß, Honig-ums-Maul-schmieren
der eigenen Klientel anbelangt, davon sprechen, daß also im Sinne Berliner Politkategorien
diejenigen, die sich hier durchsetzten, einen Sieg errungen haben.
Davon muß man sogar sprechen, wenn man die Findung des politischen Willens in unserer
angeblich noch parlamentarischen Demokratie in Form eines Überschlages zurück in die
Gepflogenheiten eines Hofstaates Ludwigs XIV. in Versailles definieren will, also politische
Entscheidungen weniger dem Inhalte nach auf das Gemeinwohl gerichtet als
Gewissensentscheidung betrachtet, sondern als eine Art Ränkespiel und informelles
Interessensgefeilsche, das sich lediglich noch der äußeren Formen des Parlamentarismus
bedient, die Entscheidungsfindung aber außerhalb der dafür vorgesehenen Ordnung hinter den
Kulissen stattfinden läßt

Der Blick für das Große, die Zukunft aber ist hierüber, das wird durch diese lächerliche
Affäre schlaglichtartig beleuchtet, verloren gegangen. Kaum läßt sich der Hauch eines
Silberstreifs am Horizont erahnen, sprich kaum daß durch Wirtschaftswachstum die Krise als
überwunden erscheint (was nicht ist, im Gegenteil), sind die vollmundig verkündeten Vorsätze
(Bankenregulierung, Beteiligung der Banken am Schaden etc.) nicht nur sofort vergessen,
sondern als das enttarnt, was sie immer schon waren, kaum daß sie ausgesprochen: leere
Lippenbekenntnisse, an deren Erfüllung nie je ernsthaft geglaubt wurde.
Kaum läßt der Druck der sich ankündigenden Fragestellungen der Zukunft ein Momentchen
nach, regiert wieder die Hoffnung, es werde weitergehen wie bisher.
Wie lächerlich ist es vor dem Hintergrund dieser unbeantworteten Fragestellungen zu
betrachten, daß sich Parteien und Fraktionen wie zu besten Zeiten des Intrigantenstadels
gegenseitig beharken, versuchen aus der kleinstmöglichen Maus einen Elephanten heraus zu
skandalisieren (siehe Rheinland - Pfalz als prädestinierenstes Beispiel: Wo in Anbetracht anstehender Wahlen
die zwei"großen" Parteien sich gegenseitig mit Untersuchungsausschüssen überziehen und mit Kübeln von Unrat überschütten. Selbstverliebt in den Regeln ihres abgehobenen Mikrokosmosses an den handschmeichelnden Hebeln
althergebrachter hohler Spielregeln ziehen, ohne auch nur einen Augenblick darauf zu
verschwenden, darüber nachzudenken, ob es darauf noch ankommt, auch nur den kleinsten
Gedanken daran zu vergeuden, daß sie mit ihrem eigenen Gebaren belegen, daß sie als
Garanten der politschen Willensbildung, der Verantwortung für die Zukunft schon längst
abgehalftert haben).

Der Jubel der Abgeordneten, der Konkurrenten um Macht und Einfluß legt beredtes Zeugnis
von der mangelnden Erkenntnis, ja Fähigkeit hierzu ab, die großen Fragen, die die Geschichte
stellt, überhaupt zu erkennen; Zeugnis davon, daß sie nur in den kleinlichen
Regelmechanismen der Hinterzimmer denken, den Tellerrand aber nicht einmal erahne. Diese
Farce beweist, wie selbstentmachtend das Parlament sich von interessen- und
klientelpolitischen Erwägungen anderer treiben läßt.

Die Zeit der alternativlosen Entscheidungen wird erst kommen, sie werden uns von den
Fakten erst noch aufgezwungen werden und hoffentlich die alte Kamarilla dieses
Parteienkleinklein davonfegen.
Es wird immer deutlicher, daß wir etwas Neues brauchen, weil das Alte weder erkennt, was
die Stunde geschlagen hat, noch Antworten bereit hält, außer derjenigen, solange weiter mit
dem Feuer zu spielen, bis das Haus in Flammen steht.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 21.01.2011 18:17.

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