Der unsichtbare Fünfte - die Folgen der Bundespräsidentenwahl

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Der unsichtbare Fünfte - die Folgen der Bundespräsidentenwahl

von redaktion am 30.06.2010 08:59




Der unsichtbare Fünfte- die Folgen der Bundespräsidentenwahl
Von polis-Gastautor Ulrich Kasparick




Manch einer täuscht sich. Er glaubt, die Menschen im Internet gäbe es nicht wirklich. Nur, weil man sie nicht sieht.

Diese Täuschung hat ihre Folgen.
Denn: Unabhängig vom Ausgang der Wahl ist die gewaltige Bürgerbewegung, die sich über das Internet für ihren Kandidaten organisiert hat, real vorhanden. Zehntausende Menschen. Mit ihren Rechnern und Handys.

Sie sind zu einer fünften Gewalt im Staate geworden. Nicht mehr nur Legislative und Exekutive, nicht mehr nur Justiz und Medien bestimmen, was in dieser Republik gedacht und entschieden wird, sondern, da ist nun jener unsichtbare Fünfte beteiligt, der von Tag zu Tag an Einfluss gewinnt. Wie mächtig das Internet werden kann, konnte man beispielhaft an der Kampagne für Joachim Gauck ablesen.
Heute können wir noch nicht wissen, wie morgen die Wahl ausgeht.
Davon unabhängig können wir aber bereits sehen, daß sich unsere Demokratie stark verändert hat.
Denn mit den Möglichkeiten des Internets wächst die politische Kreativität – über die Möglichkeiten von Parlament und Regierung hinaus.
Was liegt näher als die Annahme, daß sich künftig bei hoch umstrittenen Fragen die Menschen in diesem Land in höherem Maße als bislang beteiligen werden?
Das Instrument ist ja nun erprobt.
Man hat Erfahrungen gesammelt.

Es tauchen neue Fragen auf:
Wie wird sich das Verhältnis von Sichtbarkeit auf der Straße und unsichtbarem politischen Einfluss über das Netz gestalten?
Werden sich die klassischen Demonstrationen ebenso verändern wie es die Meinungsbildung im parlamentarischen Prozess durch die direkten Möglichkeiten von facebook, twitter & co bereits tut?
Noch hat so mancher Vertreter der „alten“ Politik gespottet, man „sehe“ ja die Menschen aus dem Netz gar nicht auf den Straßen.
So, als gäbe es sie gar nicht.
Doch: weit gefehlt.
Nie hat es in der Geschichte dieser Republik eine größere Bürgerbewegung für einen Kandidaten gegeben, die in so überaus kurzer Zeit, ohne „Apparat“ der etablierten Parteien ausgekommen ist und sich selbst organisiert hat.
Wird die „alte“ Politik, die von klarer Aufgabenteilung zwischen für eine Legislatur Gewählten und dem Wahlvolk unterscheidet, an diesem Punkt neue Möglichkeiten eröffnen? Die online-Petitionen des Bundestages weisen in diese Richtung.
Die Wahl des Präsidenten hat beispielsweise die Frage nach der Rolle der Verfassung, nach der Bedeutung des Grundgesetzes in ungeahnter Schärfe wie ein Menetekel an die Wand geschrieben: „Wie hältst du’s mit dem Grundgesetz?“

Und die Wahl des Präsidenten hat eine weitere Frage unübersehbar auf die Agenda gelegt: wie ist es mit der direkten Demokratie in unserem Lande?
Sind wir zufrieden mit der parlamentarischen Demokratie, wie wir sie tagtäglich erleben? Getrieben von Rücksichten und parteitaktischen Spielen, nicht zuletzt von Machttaktik geprägt? Oder wollen die Menschen, daß mehr Kreativität und Bewegung einzieht in unsere Demokratie, mehr Glaubwürdigkeit und argumentative Klarheit statt Parteit- und Machttaktik?

Die fünfte Macht im Staate – die unsichtbaren Menschen, die sich im Netz verknüpfen, hat sich in bislang nie gehörter Klarheit zu Wort gemeldet.
Sie kommuniziert sehr eng mit den klassischen Medien in Funk, Fernsehen und print. Das verstärkt ihren Einfluss.

Aber sie selbst ist auflagenstärker als das größte politische Magazin.

Und diese fünfte Macht ist schwerer einzuschätzen und zu kalkulieren, als es Chefredaktionen oder Fraktionsvorstände jemals waren.
Das macht die Sache so spannend.
Denn die Meinungsbildungsprozesse im Netz verlaufen nach anderen Gesetzen als die Meinungsbildungsprozesse in der alten Republik.
Ein Neues ist hinzugetreten.

Wir alle sind Lernende.
Die Menschen zu Hause oder auf der Straße, die mit ihren Laptops und Handys politisch arbeiten, haben diese Veränderungen vielleicht schneller begriffen, als so mancher, der im politischen System alt geworden ist.
Auch das wird sich ändern.
Ein neues Zusammenspiel von Legislative, Exekutive, Justiz, Medien und Netz muß und wird sich herausbilden.

Die Bundespräsidentenwahl war nur der zarte Beginn dieser spannenden Entwicklung.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 30.06.2010 09:12.

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