Beschluss des Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt

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Beschluss des Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt

von redaktion am 07.02.2011 17:21




Beschluss des Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt.


Beschluss des Parteirats


I. Demokratischer Aufbruch in den arabischen Ländern

Spätestens seit den Protesten in Tunesien befindet sich die arabische
Welt am Beginn einer neuen Ära. Auch wenn an vielen Orten noch nicht
absehbar ist, wie sich die weitere Entwicklung vollziehen wird, ist auf
jeden Fall schon jetzt klar: Die Region wird nicht mehr die gleiche sein
wie zuvor.

Angestoßen wurden die Proteste vor allem von jungen Menschen und
Angehörigen der Mittelschicht. Doch sie bezogen schnell auch weitere
gesellschaftliche Gruppen ein. Islamistische Kräfte spielten dabei
weder in Tunesien, noch in Ägypten eine herausragende Rolle.

In Tunesien gelang es der Protestbewegung in kurzer Zeit, sowohl
Präsident Ben Ali aus dem Land zu jagen als auch durchzusetzen, dass bis
auf den Ministerpräsidenten alle Vertreter des alten Regimes aus der
Übergangsregierung zurücktreten mussten. In Ägypten vollzieht sich die
Entwicklung deutlich gewaltvoller, da das Regime durch Blutvergießen und
gezielt gestiftetes Chaos den Machterhalt sichern will und
offensichtlich auf Zeit spielt. Das Regime schickte Schlägertrupps gegen
die Demonstrierenden, deren Mut und Beharrlichkeit uns beeindrucken,
denn sie ließen sich nicht in die Flucht schlagen. Ihre Forderung ist
unumstößlich: Mubarak und sein Regime müssen abtreten!

Auch in anderen Staaten der Region gären die Wut und die Unzufriedenheit
der Bürgerinnen und Bürger mit ihren Machthabern und der Unfreiheit, in
der sie leben. Bereits im Juni 2009 gingen hunderttausende Iranerinnen
und Iraner auf die Straßen und protestierten als „grüne Bewegung“ gegen
die massiven Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen. Ihr mutiger,
wochenlanger Protest wurde blutig niedergeschlagen und viele der
damaligen Demonstranten sitzen bis heute in Haft oder wurden sogar
hingerichtet. Doch sie waren für viele der heute in Tunesien, Algerien,
Ägypten, Jemen, Sudan, Jordanien, Syrien oder in Saudi-Arabien
Protestierenden ein Vorbild.

Zum Teil versuchen die herrschenden Regierungen darauf zu reagieren: Im
Jemen hat Präsident Ali Abdullah Salih nach 32 Jahren im Amt den
Verzicht auf eine weitere Kandidatur verkündet. In Jordanien ernannte
König Abdullah II einen ehemaligen Regierungschef zum neuen
Ministerpräsidenten und beauftragte ihn mit der Regierungsbil-dung und
der Einleitung von Reformen.



II. Das lange Zögern der Bundesregierung, der EU und der USA haben die
Lage verschärft

Die Entwicklung ist eine Ohrfeige für die europäische Nahost- und
Nordafrikapolitik. Nationalistische Despotie oder islamistisches Regime
waren Scheinalternativen. Despotie sichert keine Stabilität.

Die mit großem Pomp gegründete Mittelmeerunion ist eine leere Hülle.
Statt durch eine wirtschaftliche und politische Öffnung der
Maghreb-Länder eine langfristige Stabilität anzustreben, wie
ursprünglich geplant, stand lediglich die Bekämpfung von Terrorismus und
eine Flüchtlingsabwehrpolitik im Mittelpunkt der Zusammenarbeit. Dabei
wurden die Bedürfnisse der Menschen in der Maghreb-Region völlig außer
Acht gelassen und nur nach kurzfristigen, eigenen Interessen gehandelt.
Nach zwei nicht stattgefundenen Gipfeltreffen und dem Rücktritt des
Generalsekretärs kann die Mittelmeerunion endgültig als gescheitert
betrachtet werden. Angesichts der Entwicklungen in den Mittelmeerstaaten
ist die EU dringend aufgefordert, einen Politik- und Strategiewechsel
einzuleiten.

Als das Scheitern der eigenen Politik unübersehbar war, ließen die
EU-Staaten wertvolle Tage verstreichen, bis sie zu einer gemeinsamen
Linie fanden. Doch ist diese weiter von Lavieren und Zögern geprägt. Es
gibt keine klare Rücktrittsforderung an den einstigen Verbündeten
Mubarak. Durch das Nichtagieren der EU-Außenbeauftragten Catherine
Ashton und der Uneinigkeit zwischen den einzelnen Regierungen hat die EU
jede Chance verspielt, als relevanter Akteur und Unterstützer der
Ägyptischen Bevölkerung aufzutreten. Deutschlands Außenminister
Westerwelle erweist sich als Getriebener der Ereignisse. Den
Schlingerkurs rechtfertigt die Kanzlerin mit der bizarren Berufung auf
das Prinzip der Nicht-Einmischung. Das ist eine zynische Ausflucht, denn
Deutschland und die EU mischen sich seit langem in Ägypten ein, neben
manchen sinnvollen Entwicklungsprojekten vornehmlich in Form von
Unterstützung und Stabilisierung eines undemokratischen und autoritären
Regimes. Es geht also nicht um Einmischung oder Nicht-Einmischung,
sondern um die Frage, auf welcher Seite Deutschland und die EU stehen.
Angesichts der Ausmaße der Proteste, angesichts des Mutes der
Protestierenden, angesichts der brutalen Repression der Regierung, die
zum Teil mit aus den USA und der EU gelieferten Waffen erfolgt, und
angesichts der fortgesetzten Weigerung von Präsident Mubarak, aus seinen
Ämtern zu scheiden, kann es für uns nur eine klare Parteinahme für die
Demokratiebewegung geben.

Die „Revolutionstipps“ von Bundeskanzlerin Merkel, mit denen sie auf die
friedlichen Umstürze in Osteuropa 1989 verweist, um die Demonstrierenden
ruhig zu stellen, sind nach den Ereignissen der vergangenen Woche
gänzlich fehl am Platz. Niemand hätte die Deutsche Wiedervereinigung mit
Erich Honecker und Erich Mielke gestaltet. Niemand hat eine Wahl für
nächste Woche gefordert. Es geht jetzt darum, dass die Gewalt aufhört
und die sich formierenden politischen Parteien den politischen Raum für
diese Entfaltung bekommen.

Die USA betreiben einen Schlingerkurs. Einerseits gibt es
verklausulierte Rücktrittsforderungen an Mubarak. Andererseits erklärt
ein nach Kairo entsandter Sonderbeauftragter das Gegenteil, was dann
wiederum als dessen Privatmeinung dargestellt wird.

Die Haltungen von Bundesregierung, EU und USA müssen Hosni Mubarak
geradezu ermuntern, weiter auf Zeit zu spielen. Solange Mubarak aber
nicht zurückgetreten ist, besteht die Gefahr, dass sich gewaltsame
Attacken auf die Demonstranten sowie auf ausländische Journalisten, wie
sie letzte Woche verübt wurden, wiederholen.

Heute bedarf es auch einer kritischen Auseinandersetzung mit der
bisherigen Politik. Europa und die USA müssen das Scheitern ihrer
Politik eingestehen, mit der sie die eigenen Werte jahrzehntelang
verraten haben. Der Versuch, Stabilität ohne Demokratie, Menschenrechte
und Rechtsstaat anzustreben, war ein fataler Irrweg. Er führte letztlich
zur Destabilisierung einer ganzen Region – wie die derzeitigen Aufstände
für Demokratie und Freiheit in den arabischen Ländern zeigen.
Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat sind keine bloßen Zugaben,
sondern die Fundamente politischer Stabilität.

Islamistische Kräfte gibt es in allen betroffenen Staaten. Aber es gibt
sowohl Unter-schiede zwischen den verschiedenen Staaten wie auch
verschiedene Fraktionen innerhalb der islamischen Bewegungen. Die
islamistischen Kräfte spielen bei den bisherigen Umstürzen und Unruhen
nur eine marginale Rolle. Vor diesem Hintergrund muss der weitere Umgang
mit den islamistischen Kräften von folgenden Kriterien geleitet werden:
- diese Kräfte müssen die Universalität der Menschenrechte ebenso
anerkennen wie die Regeln einer demokratischen Verfassung und
geschlossene völkerrechtliche Verträge;
- dann darf es keine Ausgrenzung bei der Vorbereitung freier Wahlen in
der Übergangsphase geben.



III. Eckpunkte zur nachhaltigen Unterstützung der Freiheitsbewegung in
der arabischen Welt

1. Wir stehen an der Seite der Freiheitsbewegung und unterstützen die
friedliche Revolution.

2. Wir verurteilen die Gewalt der autokratischen Regime gegen die
friedlichen Demonstranten und fordern die sofortige Beendigung des
Ausnahmezustands, die Gewährung von Informations-, Versammlungs-, und
Meinungsfreiheit sowie stets freien Zugang zu Internet und Handynetzen.
Die Bewegungsfreiheit für Journalisten muss gewährleistet und alle
gefangen genommenen Blogger und Journalisten unverzüglich freigelassen
werden. Die Religionsfreiheit muss umfassend gewährleistet werden.

3. Wir fordern von der Bundesregierung und der EU, Druck auf die
ägyptische Regierung mit dem Ziel auszuüben, dass Präsident Mubarak
zurücktritt und einer Übergangsregierung Platz macht. Die
EU-Mitgliedsstaaten sollten auch Sanktionen in Betracht ziehen wie das
Einfrieren der Auslandskonten von Hosni Mubarak und seiner Familie.

4. Wir fordern, dass die EU den autokratischen Regierungen in der
arabischen Welt die direkte Unterstützung in Form von Budgethilfe und
militärischer Hilfe sofort entzieht, und zwar solange keine glaubhafte
Transformation eingeleitet ist.

5. Wir fordern eine Neuordnung der EU-Mittelmeerpolitik unter
Einbeziehung der Türkei hin zu einem Transformationspakt der EU mit den
Ländern der arabischen Welt, um diese bei ihren Umbrüchen zu
unterstützen und zu stabilisieren.

6. Wir fordern mehr Unterstützung für zivilgesellschaftliche Gruppen und
demokratische Kräfte sowie ein intensives Rechts- und
Sozialstaatsprogramm für die Gesellschaften im Transformationsprozess.
In die damit verbundenen Gespräche müssen Frauenor-ganisationen explizit
einbezogen werden.

7. Die Sicherheit des Staates Israel ist für uns nicht verhandelbar.
Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien sind wichtige Pfeiler der
Stabilität. Auch die neu entstehenden Regierungen müssen daran
festhalten. Hinsichtlich des Nahost-Friedensprozesses sehen wir die
Notwendigkeit für rasche Fortschritte hin zu einer fairen
Zwei-Staaten-Lösung.


Beschluss: einstimmig

Antworten Zuletzt bearbeitet am 07.02.2011 17:21.

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