Aus dem Fenster gelehnt

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Aus dem Fenster gelehnt

von redaktion am 02.02.2011 10:46




Aus dem Fenster gelehnt
von polis-Gastautor Thomas de Torquemada

Ägypten, Land der Pharaonen, bis zum heutigen Tag, Land zwischen Ost und West, nicht
Afrika, noch Asien.
Nun steht das Volk auf den Straßen und verlangt das Weichen des Pharao, seiner Familie,
seiner Clique, die sich Partei nennt.

Wo ziehst Du hin, Ägypten?

Für den Westen ist es klar: Stereotyp und monoton erschallt der Ruf, nun siege Demokratie
und Freiheit gegen Unterdrückung und Willkür, ebenso der Appell, die Konfliktparteien
mögen friedlich bleiben und auf Gewalt verzichten.
Ebenso aber spürt man hinter der offiziellen Kulisse das Unbehagen, welches sich breit
macht, ob der Ungewissheit und Unkenntnis, was da vor sich geht, was vor allem am Ende
herauskommt. Denn eins ist hinter diesen Kulissen gewiß, halbwegs zivilisierte Diktatoren
sind die zuverlässigeren Optionen als Unruhen, Volksaufstände und Revolutionen, so sehr
man ihnen auch den Wunsch nach Freiheit und Demokratie im westlichen Sinne in den Mund
legt.

Nun also, wo ziehst Du hin, Ägypten?

Keiner weiß es. Und dennoch gilt es, sich aus dem Fenster zu lehnen. Denn nur, wer
hinausschaut, erahnt, welches Wetter kommt, richtet sich ein, irrt sich oder behält Recht.

Fassen wir zusammen:
In Tunesien kochte die Volksseele hoch, der Funkenflug erreichte Ägypten und fachte einen
Schwelbrand an, der schon seit langem glimmt.
Es war die Unzufriedenheit, welche die Menschen auf die Straße brachte – wie stets, wenn
denn endlich das Volk sich entschließt, auf die Straße zu gehen. Die Unzufriedenheit mit
seiner wirtschaftlichen Situation, mit der Ungerechtigkeit der Verteilung von Reichtum und
Wohlstand, der Bündelung in der Hand einiger weniger, eben jener Clique, die sich Partei
schimpft aber eine mit Familienbanden verstärkte Oligarchie ist, die alles, was die Hebel der
Macht in die Hand gibt, politische Macht, Anhäufung unverschämter Reichtümer, Diktat des
Rechts, Beherrschung von Militär und Sicherheitsorganen, in ihrer Hand bündelte.
Und da nun einmal in der Oligarchie wirtschaftliche und politische Macht Hand in Hand
gehen, ist es nur natürlich, ja ein Automatismus, daß sich mit der Unzufriedenheit über die
wirtschaftlichen Verhältnisse, die pekuniäre Benachteiligung die Unzufriedenheit mit den
politischen Verhältnissen, der Unfreiheit und Bevormundung verband.

Es sind Hunderttausende, Millionen geworden, die jetzt auf die Straße gehen. Nachdem die
große Masse erkannte und verspürte, daß der herrschenden Kaste die Kraft und der Mut
fehlte, ja diese Kaste sich ihrer selbst nicht mehr sicher wahr, die ersten Mutigen, die sich
zum Protest hochstemmten, aus dem Verkehr zu ziehen und verschwinden zu lassen, da setzte
der Sogeffekt ein, der Übermut, der Instinkt der Nase, die riecht, wenn die Herrschaft wankt,
die riecht, daß die Gefahr des Protestes geringer ist als das Gefühl des Unmutes. Und in einer
sich selbst befruchtenden Spirale zog die wachsende Masse immer stärker anschwellende
Massen vor die Tür. Und erneut bewahrheitet sich das, was jede Revolution, jeden Umsturz
ausmacht: Es ist nicht die kleine, radikale, zu allem entschlossene Gruppe, der es mit Gewalt
gelingt, ein System zu destabilisieren und aus dem Sattel zu heben. Vielmehr ist es das
System, welches sich schon selbst destabilisiert hat und niemanden mehr findet, keinerlei

Anziehungskraft mehr aufbringt für solche, die noch bereit sind, sich für es einzusetzen, den
Kopf hinzuhalten und es zu verteidigen. Noch bevor der erste Schuß fällt, sind seine Stützen,
die Sicherheits- und Ordnungskräfte desertiert und von den Fahnen gegangen. Schon beim
ersten Schuß zeigen sich ungeahnte Auflösungserscheinungen, die aber schon längst unter der
Oberfläche schlummerten. So sah man den tunesischen Diktator Ben Ali plötzlich, sang und
klanglos ins Ausland verschwinden, wo er doch wenige Stunden zuvor noch so fest im Sattel
zu sitzen schien (wahrscheinlich, weil ihm zuvor deutlich gemacht worden war, daß niemand,
insbesondere das Militär bereit sei, noch einen Schuß Pulver für ihn abzugeben). So
verschwand der Zar 1917 kampflos in Tobolsk und Jekaterinburg, obwohl in Petrograd
ausreichend Kosaken standen, die Demonstrationen auf den Straßen auseinanderzutreiben –
allein die Kosaken wollten nicht mehr, weil ihnen das System über war und sie keinen Sinn
mehr darin sahen. Ebenso verflüchtigten sich 1918 die Bundesfürsten des Deutschen Reiches
wie Rauch in der Luft, obwohl nur vier Jahre zuvor das monarchische Prinzip noch festgefügt
wie Granit erschien, sobald ein Bürger nur zaghaft an das Schloßportal klopfte (die
schimmernde Wehr hatte ebenso die Lust verloren, den Kopf hinzuhalten). Und auch die SED
verabschiedete sich wie ein Spuk aus der Geschichte, ohne daß der riesige Apparat der
Staatssicherheit auch nur noch einen Finger für sie krumm machte.

Nun also Ägypten. Dasselbe Bild. Die Polizei hat sich verflüchtigt, aufgelöst. Es wird sogar
spekuliert, daß sie schnell noch die Schätze in den Museen plünderte, bevor sie die Uniformen
wegschmiss. Und das Militär – die einstige Stütze des Regimes, welches den König
wegputschte, Nasser zum Kopf der arabischen Liga machte, die israelfeindliche, aggressive
Politik mittrug, die Schmach des 6 – Tage – Kriegs überlebte, die Selbstachtung und den
Respekt im Yom – Kippur – Krieg wiederfand, den Wandel Saddats vom Krieger zum
Realpolitiker mittrug, und Mubarak den Übergang in eine scheinbare Normalität ermöglichte,
in welcher das Regime fett und behäbig wurde, an Strahlkraft und Glaubwürdigkeit verlor bis
zu Karrikatur – nun also, dieses Militär erklärte, nicht auf die Bürger zu schießen. Sicherlich
nicht, weil Mubarak das Militär aufforderte, dies zu unterlassen und es öffentlich zu erklären.
Nein, umgekehrt, weil das Militär Mubarak die Pistole auf die Brust gesetzt hat und sich
verweigert hat, für das Regime noch einen Schuß Pulver abzufeuern, weil das Militär nicht
mehr bereit ist, die herrschende Klasse zu tragen oder zu verteidigen.

Und gleichzeitig macht dies deutlich, wer das eigentliche Sagen im Staat hat, wer die Macht
hat, die Zukunft Ägyptens zu bestimmen.

Was wird geschehen, wie wird es weitergehen? Klar ist, daß es nur eine Frage der Zeit, und
zwar einer recht kurzen Zeit ist, bis Mubarak erkennt und einsieht, daß sein Spiel vorbei ist,
daß er ausgespielt hat. Wie man vernimmt, haben die Reichen bereits Hals über Kopf das
Weite gesucht, Mubarak wird in kürze folgen und irgendein anderes arabisches Land finden,
welches ihn als Exilanten aufnimmt und ihn die Reichtümer, die er retten konnte, genießen
lässt.
Und mit diesem Zeitpunkt werden die Probleme des Landes erst beginnen. Der Deckel über
dem dampfenden Topf ist geöffnet und es brodelt. Was die Bewegung auf den Straßen derzeit
zusammenhält ist nur eines, der kleinste gemeinsame Nenner: Mubarak muß weg, sein
ganzes, abgehalftertes System muß weg. Mit Kompromissen wird man sich nicht zufrieden
geben. Und sicherlich wird jeglicher Versuch, sich zu winden, um einen Rest an Macht zu
bewahren, hinter den Kulissen vom Militär unterbunden werden, welches der alten Clique
klarmachen wird, daß man auf seine Bajonette nicht mehr bauen kann. So bringt sich das
Militär als einziger, intakter Ordnungsfaktor des Landes geschickt in Position:
Faktisch übernimmt es die Macht und macht deutlich, daß ohne es oder an ihm vorbei nichts
und niemand handeln kann. Zudem behält es eine weiße Weste, indem es darauf verweisen
kann, die demonstrierenden Zivilisten geschützt zu haben, und durch seine Verweigerung die
Oligarchie erst recht aus den Angeln gehoben zu haben.

Ist nun also das alte, morsche beseitigt, der gemeinsame Feind vertrieben, damit aber auch der
kleinste gemeinsame Nenner weggefallen, steht das Schicksal Ägyptens an der Wegscheide.
Erst jetzt werden sich zwischen den einzelnen Gruppen, Strömungen, Richtungen der
Protestbewegung die Differenzen, Unterschiede und Klüfte zeigen und auftun. Erst dann
werden die unterschiedlichen Bewegungen, die hinter Unmut und Protest stehen, Profil
gewinnen – und sich zu profilieren suchen. Denn ab nun zählt es, die günstigen
Ausgangspositionen zu gewinnen, die Hausmacht zu bilden, die den entscheidenden Vorteil
verschafft, da es gilt, den Preis zu gewinnen, der allein zählt, die Macht im Lande.
El Baradei wird zunächst Hoffnungsträger sein, im Lande selbst wie im westlichen Ausland
(Dort ist er bekannt, als einziger, und berechenbar als bekannte Größe im westlichen Sinne, da
er an der Spitze der internationalen Atombehörde stand. Und das wird ihn für den Westen
verführerisch machen, auf ihn als einzige Figur in einem Spiel mit vielen Unbekannten zu
setzen, und den Keim des Fehlers des Westens in sich tragen, alles auf einen – und vielleicht
deshalb auf den falschen – zu setzen).
Er wird versuchen, eine Übergangsregierung zu bilden, die möglichst auf ein breites
Fundament gegründet sein soll, um der sich hieraus entwickelnden zukünftigen Ordnung ein
Höchstmaß an Legitimation mit auf den Weg zu geben. Es zeichnet sich ab, ohne auf die
vielfache Friktion der Protestbewegung im Detail eingehen zu wollen, daß zwei Strömungen
die beherrschenden sind: Eine eher säkulare Seite des Protests und eine eher religiös geprägte.
Wahrscheinlich ist die säkulare Seite derzeit die etwas stärkere mit der größeren
Anhängerschaft.
Die religiös geprägte aber wird wahrscheinlich die Seite sein, welche die größere Kraft
aufbringen wird, da sie den radikaleren Willen zur Macht und Umgestaltung der Verhältnisse
mit sich bringt, stärkere innere Bindung mit sich bringt, besser organisiert ist und das Leben
im Untergrund, im Geheimen kennt. Die säkulare Seite wird eher zufriedenzustellen sein,
sobald die Minimalziele erreicht sind, ein Mindestmaß an Wohlstand und Freiheit. Ist das aber
erreicht, zerfällt die Einheit in sich gegenseitig befehdende Fraktionen.
El Baradei jedenfalls wird darauf achten, nicht allein die säkularen Kräfte, sondern auch die
religiösen einzubinden – und diese damit, die bislang geächtet und verboten waren,
notgedrungen hoffähig machen und aufwerten.

Der weitere Weg wird sein, daß alle sich bildenden Fraktionen versuchen werden, ihren
Einfluß auszubauen. Und wahrscheinlich werden auch ausländische Interessen versuchen,
hierauf einzuwirken. Mit Sicherheit wird der Westen versuchen, wenigstens mittelbar die
Säkularen zu stärken. Und wahrscheinlich wird selbst Israel dies tun. Je stärker jedoch die
westliche, insbesondere israelische Einflussnahme sein wird, desto stärker wird dies die
unterstützten Säkularen desavouieren, die Religiösen aber aufwerten. Dies umso mehr, wenn
der erhoffte Erfolg, das dem Protest als ursprüngliche Triebfeder innewohnende Versprechen,
die Umverteilung und Gewährung von Wohlstand, nicht in Erfüllung treten wird. Und die
Gefahr hierfür ist groß, ja zeichnet sich sogar bereits ab:
Die große Devisenquelle, der Tourismus, reagiert ausgesprochen empfindlich und
hochnervös. Voraussetzung für das Wohlbefinden des Pauschaltouristen ist die träge,
volkaskoumsorgte Sorglosigkeit. Ist diese gefährdet, kommt er nicht mehr, allein schon aus
Angst, für das gezahlte Geld entweder keine oder keine in seinem Sinne mangefreie Leistung
zu erhalten. Erinnere man sich, welche Auswirkung auf den ägyptischen Massentourismus
allein die vereinzelten Anschläge im Tal der Könige hatten, so kann man sich vorstellen, was
eine latent unsichere politische Lage mit sich bringen wird.

Aber nicht nur der Tourismus bringt ein wirtschaftliches Problem, stärker noch wird sich
auswirken, was jetzt schon ansetzt: Die Abwertung der Kreditwürdigkeit Ägyptens, die damit
einhergehende Abwertung ägyptischer Wirtschaftskraft, die Abwertung der ägyptischen
Währung, gefolgt von der Verteuerung der Importe, erhöhter Inflation und wiederum
Verteuerung der Grundnahrungsmittel – in einem Land, in welchem bereits in ruhigen Zeiten
das alltägliche Überleben für viele einem Kampf gleichkam.
Je länger also die moderaten Kräfte benötigen werden, die Situation unter Kontrolle zu
bringen, zu stabilisieren und das dem Aufstand inneliegende Versprechen auf allgemeinen,
bescheidenen Wohlstand einzulösen, desto stärker und schneller wird deren Unterstützung
erodieren. Oder anders gesagt: Mit zunehmender Zeit ohne spürbaren, schnellen Erfolg, desto
destabilisierter wird die Lage, desto stärker wird die Bewegung zu den religiösen Kräften der
Muslimbruderschaften. Die Zeit wird also gegen die vom Westen favorisierten Kräfte
arbeiten.
Je instabiler die Lage aber werden wird, umso stärker wird die weltpolitische Bedeutung
Ägyptens, umso stärker wird der Westen versuchen, seine Verbündeten im Land zu
unterstützen, während die religiösen Kräfte selbstredend ebenfalls Verbündete und
Bundesgenossen in der arabischen Welt finden werden. Denn eines unterscheidet das Land
von vielen anderen. Durch Ägypten zieht sich eine Hauptschlagader der Weltwirtschaft, der
Suezkanal. Allein deshalb ist es offensichtlich, daß die diversen Gegenspieler der Weltpolitik
den Entwicklungen in Ägypten nicht untätig zuschauen werden, Israel schon gar nicht, da die
Entwicklung, gar Destabilisierung der Region für Israel von elementar lebenswichtiger
Bedeutung ist.
Je instabiler und gefährlicher die Lage für die Halsschlagader Suezkanal aber werden wird,
desto wirtschaftlich nachteiliger wird sich dies gegen das Land wenden – und damit in einem
circulus vitiosus die Erschütterung Ägyptens weiter verstärken.

Die gerade entstehende Lage ist also hochbrisant und öffnet ein weites Feld an Möglichkeiten,
Fehler zu begehen. Und wie Geschichte und menschliches Leben lehren, werden Fehler, die
zu begehen möglich sind, auch begangen.

Je stärker aber die religiösen Kräfte werden sollten, desto stärker wird auch das Militär
gezwungen sein, zu intervenieren, und Farbe zu bekennen. Wie bereits weiter oben gezeigt, ist
das Militär nicht nur das Zünglein an der Waage, sondern die ausschlaggebende Kraft und
einzig intakt geblieben Ordnungsmacht im Staate, ja selbst in subjektiv – moralischer Sicht
der Dinge, indem es sich faktisch eindeutig auf die Seite der Aufständischen gestellt hat.
Sollten die Verhältnis im Lande aber, wie oben beschrieben, sich weiter destabilisieren, wird
kaum anzunehmen sein, daß das Militär, welches in ununterbrochener Tradition seit 1952,
dem Militärputsch gegen das korrupte Regime des letzten Königs die Geschicke Ägyptens
einmal mehr, einmal weniger, einmal eher aus dem Hintergrund, ein ander mal im
Vordergrund bestimmte, dem tatenlos zuschauen wird. Im Gegenteil, es wird gezwungen sein,
aktiv zu werden und Farbe zu bekennen.
Die Wahrscheinlichkeit, daß sich das Militär bei Erstarkung religiöser Kräfte gegen diese
wenden wird und eine Islamisierung Ägyptens nicht hinnehmen wird, dürfte dabei die weitaus
höhere sein als eine Solidarisierung. Denn trotz des jahrzehntelangen Kampfes gegen Israel ist
das Militär säkular geprägt, die Motive dieses Kampfes sind eher weniger religiöser Natur. So
sei darauf verwiesen, daß zu Hochzeiten dieses Kampfes Ägypten sich zu den sozialistischen
Ländern und den Verbündeten der Sowjetunion zählte – ganz ähnlich der sozialistischen
Baathpartei in Syrien oder Saddam Husseins im Irak, die ein säkulares areligiöses Regime
produzierte und den Islam nur instrumentalisierte, wenn es darum ging, Kräfte im Kampf
gegen äußere Feinde zu mobilisieren.

Denn zudem müsste das Militär bei einer Islamisierung der Gesellschaft befürchten, Kontrolle
zu verlieren, da über die religiösen Kräfte ausländische Mächte in Form bereits islamisierter
Länder verstärkt Einfluß auf die ägyptischen Interna nehmen würde.
Zudem stehen Länder wie Iran Vorbild, als dort die Hausmacht des Militärs durch religiös
motivierte paramilitärische Formationen Zug um Zug weiter zurückgedrängt wurde.
Zuletzt sei zu erwähnen, daß das Militär zwar der politischen Führung die Gefolgschaft
aufgekündigt hat, nichtsdestotrotz aber zu den Profiteuren dieses Regimes zählt, da die
militärische Führung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Versuchung nicht
widerstehen konnte, sich die Loyalität gegenüber Mubarak und Co. bis zuletzt vergolden zu
lassen. Kämen die religiösen Kräfte zum Zuge, wäre die Konsequenz ein nicht zu
gewinnender Rechtfertigungszwang einhergehend mit Macht-, Ansehens- und
Vermögensverlust. Der natürliche Feind des Militärs dürften also die religiösen Kräfte im
Land sein, der natürliche, wenigstens Zweckverbündete die säkularen Kräfte in welcher
Fraktionierung auch immer.

Das sich hieraus erhebliches Spannungs- und Konfliktpotential aufbaut, liegt auf der Hand,
gerade dann, wenn wie oben bechrieben, aus genannten Gründen, den Effekt auslösend und
verstärkend die Unterstützung der Religiösen zunehmen wird.
Es ist also zu befürchten, daß sich eine Konstellation ergibt, auf deren einer Seite die
Säkularen, „bürgerlichen“ Kräfte im Bündnis mit dem Militär stehen, auf deren anderer Seite
die Religiösen, sich zunehmend radikalisierenden Kräfte formieren, wobei sich das derzeit
noch bestehende Kräfteverhältnis mit zunehmender Zeit zugunsten der Waagschale der
Religiösen neigen wird. Dieses Spannungsverhältnis im Ringen um die Macht und
Gestaltungsmöglichkeit in Staat und Gesellschaft wird sich wohl zunehmend weiter aufbauen,
verstärken und in unüberbrückbaren Gegensätzn profilieren. Wenn auch das Militär sich
weitestgehend, die eine Seite duldend unterstützend zurückhalten wird, so muß damit
gerechnet werden, daß es ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr untätig zuschauen kann
(wie so oft schon in der jüngeren ägyptischen Geschichte): dann nämlich, wenn die
Religiösen davorstehen sollten, die Macht im Staate zu ergeifen.
In diesem Falle muß also mit einem Eingreifen der Armee in die politische Gestaltung
Ägyptens gerechnet werden.
Wie also ebenso oft in der Geschichte, so wird es wohl auch jetzt so sein, daß der Umsturz,
die eigentliche Revolution selbst relativ unblutig verläuft und das „ancient regime“ recht
unspektakulär und widerstandslos in sich zusammenklappt, jedoch die „Nachbereitungsphase“
die Selbstfindungsphase des Umsturzparteien und –fraktionen in die eigentliche blutig –
chaotische Auseinandersetzung mündet.

Was also zu prognostiziern ist – und hiermit ist das „Aus dem Fenster lehnen“ angesprochen –
ist die Gefahr und die hohe Wahrscheinlichkeit eines vom Militär mitinitiierten,
mitgetragenen Bürgerkrieges zwischen säkularen und religiösen Kräften, an dessen Ende alles
andere als das Wolkenkuckucksheim einer westlichen Demokratie steht, sondern wohl eher
eine Militärdiktatur, zumindest aber ein System, das stark der frühen atatürkschen Republik
ähnelt, in welcher das Militär sich als hinter der zivilen Ordnung stehenden Wächter sieht,
welches – Staat im Staate – die säkulare Organisation der Gesellschaft garantiert (ohne einen
Widerspruch darin zu sehen, siehe Türkei, gleichzeitig insbesondere christliche Minderheiten
zu unterdrücken), und sich als über und außerhalb der Verfassung stehend vorbehält, dann,
wenn es notwenig erscheint, regulierend einzugreifen. Es wird also bei der seit 1952
begründeten Tradition bleiben, daß die hinter den Kulissen wirkende, stärkste gestaltende
Kraft das Militär bleibt, lediglich, allerdings mit erheblichen Brüchen und Friktionen, die
zivile Regierung als Aushängeschild ausgetauscht wird.

Wie sich allerdings diese Übergangszeit insbesondere auf uns auswirken wird, zeichnet sich,
bereits weiter oben angedeutet, ebenfalls jetzt schon am Horizont ab: Der Ölpreis steigt, wird
weiter steigen, je näher das Problem an den Suezkanal und an die ölfördernden Länder
heranrücken wird und den Nahen Osten zu destabilisieren droht. Und damit wird dieser uralte
Konflikt im Land der Pharaonen die Probleme unserer Ökonomie, unserer Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, welche 2006 beginnend durch die Finanzkrise aufgedeckt wurden,
nach wie vor weiterschwelen, wieder anfachen und verschärfen: die Überschuldung der
Länder, der Wirtschaft, der Privaten, die Vergreisung des Westens, die Verteuerung des
Lebens durch Verteuerung von Rohstoffen.

Weit genug aus dem Fenster gelehnt, warten wir ab, was da kommen wird.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 02.02.2011 11:25.

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