Prawda, Stürmer und Co.

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polis
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Prawda, Stürmer und Co.

von polis am 29.09.2011 18:04

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Prawda, Stürmer und Co.

von polis-Gastautor Thomas de Torquemada


TdT

Heute morgen hab ich in eine Zeitung geschaut. Zugegeben nur ein Provinzblatt, das aber einige Stücke auf sich hält. Oben auf der ersten Seite prangte ein Kasten mit Bildern von Bundestagsabgeordneten aus dem Verbreitungsgebiet der Zeitung und darüber die durchaus stolzgeschwellte Schlagzeile: "In unserem Land gibt es keine Abweichler."

Ist es Dummheit, Ignoranz oder Vorsatz, ist es schlichte Ahnungslosigkeit, geschichtslose Vergessenheit, oder was ist es? Es ist in jedem Falle ein Zeichen. Ein Zeichen der Zeit, ein Zeichen mangelnder Qualität, ein Zeichen von mangelnder Bildung, ein Zeichen von Dämlichkeit und Schäbigkeit.

Woher kommt der Begriff des "Abweichlers". Hat sich das irgendjemand schon mal gefragt, insbesondere von denjenigen, die ihn permanent im Munde führen, die ihn schreiben und verwenden?

Schlägt man eine von diesen Zeitungen auf, handelt es sich um eine renomierte Tages- oder Wochenzeitung oder ein weit verbreitetes, aber eben nicht entsprechend niveauvolles Provinzblatt wie unser Besipiel, so sind die Texte mit einem Wort gepflastert: Experte.

Für alles gibt es einen Experten, der so nebenbei in den Text einfließt, selbst für das Bestattungswesen, wie ich kürzlich dem gleichen Blatt entnehmen durfte. Woher diese Experten kommen, was sie überhaupt zu Experten macht, oder ob sie schlicht aus der heißen Luft erfunden sind - wer weiß. Es ist auch egal, ob es den Experten für heiße Winde oder Islamismus, der zitiert wird, gibt oder nicht, interessiert keinen, das Berufen auf das Expertentum dient nur einem Zweck: Das Zeug, was man für den Artikel zusammenschreibt, mit dem Ruch des Wahren, Authentischen, nicht zu leugnenden Wahrheitsgehalt zu parfümieren und dem Leser die Last des eigenen Denkens abzunehmen, das sich dann allein auf das Hinnehmen beschränken kann: "Naja, wenn das ein Experte sagt, dann wird es wohl seine Richtigkeit haben".

Allein der Journalist ist heutzutage offensichtlich ein Experte für gar nichts mehr, sonst wüßte er, wer den Abweichler erfunden hat. Man könnte ein paar Jahre zurückschauen, wenn man sich noch an den Namen Ypsilanti erinnert. Auch damals, allerdings von der SPD wurde der Begriff des Abweichlers verwendet für jene Abgeordneten, die sich mit der Begründung, Ypsilanti habe ein Versprechen gebrochen, weigerten, diese zur hessischen Ministerpräsidentin zu wählen.

Ursprung des "Abweichlers" war dies allerdings immer noch nicht, man muß weiter zurückgehen. Und es wäre so einfach, es zu ergründen, einmal in Google eingegeben, enthüllt Wikipedia das Geheimnis - umso bezeichnender, daß es niemand tut, insbesondere niemand von den Experten für Recherche, denen man es doch abverlangen müßte, zu wissen, was und worüber sie schreiben. Warum aber fragt sich niemand danach? Weil er so passend erscheint, in Sache und Zeit, so modern, daß man glauben könnte, der "Abweichler" sei gerade für diese renitenten Abgeordneten erfunden worden, die sich seit neuestem versuchen, dem Fraktionszwang zu entziehen.

Auch so ein Begriff, der Fraktionszwang, der in aller Munde ist, insbesondere in demjenigen von Journalisten in allerlei Medien, daß man wie selbstverständlich glaubt, es gäbe ihn tatsächlich, den Fraktionszwang. Und besonders dann, wenn in den Nachrichten hervorgehoben wird, in dieser oder jener Abstimmung sei der Fraktionszwang gelockert oder gar aufgehoben, den Abgeordneten sei es überlassen sich frei, gar frei nach ihrem Gewissen für dies oder das zu entscheiden. So war es bei der Entscheidung über das PID-Gesetz, so war es bei der Entscheidung, ob man in Bonn bleibt oder nach Berlin zieht. Ansonsten, so muß man doch davon ausgehen, zumal es ja Experten für Politik - Journalisten - von sich geben, wird es schon stimmen, daß der Abgeordnete Hinz wie der Abgeordnete Kunz dem Fraktionszwang unterworfen ist, zumal die Betroffenen selbst, also Hinz und Kunz, Merkel, Schäuble und auch die von der anderen Fraktion rege davon zu berichten wissen. Es scheint sich zumindest um eine Art Gewohnheitsrecht zu handeln.

Und so absurd und traurig es ist, wahrlich ist es zu einem Gewohnheitsrecht geworden, durch stetige Wiederholung, durch Angst um die eigene politische Karriere, durch das Dogma alternativloser Entscheidungen gefördert, gefestigt und in den Granit des "es wird schon so sein" geschlagen, daß es einen solchen Zwang faktisch gibt.

Weil vergessen worden ist, daß es ihn eigentlich von Rechts wegen gar nicht geben darf, der Fraktionszwang an sich sogar aus dem Verständnis unserer Verfassung heraus verboten ist. Denn dort steht, daß der Abgeordnete nichts, keiner Fraktion, keiner Kanzlerin, keinem Wählerauftrag, keinem höheren Wesen, nichts, außer dem eigenen Gewissen unterworfen ist.

Fraktionsdisziplin, die gibt es, besagt aber nicht mehr, als daß man zu den Sitzungen und Abstimmunge erscheinen muß, nicht aber, wie man abstimmen muß. Wahrscheinlich hat man irgendwann Begriffe und Inhalte verwechselt und so nahm es seinen Lauf.

Aber was sagt das über den Zustand unseres Gemeinwesens aus, wenn die schlichtesten Grundlage nicht nur derart in Vergessenheit geraten sind, sondern vielmehr in der allgemeinen Wahrnehmung in ihr Gegenteil verkehrt worden sind? Daß ein allein seinem eigenen Gewissen unterworfener Parlamentarier zu einer Abstimmungsmarionette, zu einem Getriebeteilchen mit zugewiesener Funktion degradiert wird, so wie in einer Räterepublik, einem Sowjet, im Haus des Volkes, im chinesischen Volksdelegiertenhaus, wo das Ergebnis der Abstimmung bereits feststeht, bevor überhaupt der erste im Sitzungssaal Platz genommen hat. Daß ein Abweichen unter Berufung auf das eigene Gewissen, so wie es im Grundgesetz steht, von der Vorgabe von oben in unserem Land, welches mit dem eregierten Phallus des demokratischen, freiheitlichen, liberalen Musterknaben anbiedernd, besserwisserisch den Samen seiner Vorbildhaftigkeit in die Welt hinaus ejakuliert, als Katastrophenfall des Parlamentarismus angeprangert wird.

Und was hat das wiederum mit der Begrifflichkeit des Abweichlers zu tun, was ist daran so schlimm? Es schließt den Kreis und ist näher dem Sowjet als man denkt: Er wurde erstmals unter Stalin erfunden und von Stalin verwendet für jeden, der aus welchen Gründen auch immer nicht genehm war, diffamiert werden sollte, politsch für tot erklärt und im Rahmen der Säuberungswellen auch im eigentliche Sinne des Wortes das zeitliche segnen sollte. Wer zum Abweichler gestempelt wurde, war stigmatisiert, trug ein Brandmal, wurde ausgesondert, isoliert, eleminiert.

Bezeichnend, wie inhaltliche Aushölung und Wortwahl Hand in Hand gehen. Was ist von unserem Gemeinwesen noch zu halten, was steht uns noch bevor, was dürfen wir erwarten, wenn nur ein Fünkchen davon wahr ist, daß das Wort eine schärfere Waffe sei als das Schwert. Wie weit ist es gekommen, daß man sich rhetorisch auf die Ebene Stalins begibt, und es noch nicht einmal bemerkt?

Antworten Zuletzt bearbeitet am 29.09.2011 18:05.

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