Lupenrein

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polis
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Lupenrein

von polis am 05.12.2010 11:31




Lupenrein
von polis-Gastautor Thomas de Torquemada

Wikileaks hat etwas Ungezogenes getan. Unerhört! Die Vertraulichkeit des Wortes - ist sie
nichts mehr wert? Wenn man nach dem Aufschrei urteilt, den Regierungskreise ob der
Tatsache an sich erheben, daß mehr oder weniger brisante Dossiers veröffentlicht wurden,
wenn man die betont lässige Art und Weise des Umgangs mit der an das Licht der
Öffentlichkeit gezerrten Charakterisierung von Politikern geht, oder dem schadenfrohen
Gekeife asiatischer Potentaten gegenüber der Bloßstellung des Westens einhergehend mit
dem Schweigen im Walde zu den eigenen blankgezogenen Hinterteilen, dann gewinnt man
den Eindruck, daß eine wunde Stelle getroffen worden ist. Ob die Wunde Stelle diejenige ist,
daß durch die Veröffentlichungen gegenseitiges diplomatisches Vertrauen geschädigt worden
ist, Gefahren heraufbeschworen werden für Leib und Leben und die Stabilität ganzer
Regionen, dürfte zweifelhaft sein. Liest man die Dossiers, kommt man unweigerlich zu dem
Schluß, daß es eh mit dem gegenseitigen diplomatischen Vertrauen nicht so weit her sein
kann (gab es in der Diplomatie überhaupt jemals schon so etwas wie Vertrauen, oder ist dies
nicht gerade hinderlich, wenn es um die Wahrung machtpolitischer Interessen geht?).

Destabilisierung ganzer Regionen - was beispielsweise kann in der Region Pakistan überhaupt
noch destabilisiert werden, wenn man den eigenen diplomatischen Analysen Glauben
schenken mag?

Und vieles, was jetzt zu lesen ist, besonders an charakterlicher Einschätzung von Politikern,
war, wenn man eifrig Zeitungen und journalistische Veröffentlichung unter Anwendung
gesunden Menschenverstandes zur Kenntnis nahm, ohnehin bekannt oder erahnbar, so daß die
jetzige Veröffentlichung weniger konstitutiven Charakter neuer Erkenntnisse mit sich bringt
als vielmehr den deklaratorischen Beleg bereits öffentlich kursierender Vermutungen. Das ist
nicht allein in personam unseres geliebten Außenministers etc. der Fall, sondern auch
hinsichtlich der Entwicklung eines Gemeinwesens, das man als Russische Föderation nebst
Anreinerstaaten kennt.

Wie heißt es da in den Botschaftsberichten: Auf jeder Ebene des Staates und der Verwaltung
sei eine Verwebung öffentlicher, privater und krimineller Interessen festzustellen, ja ganze
Teilrepubliken hätten sich in mafiöse Gebilde gewandelt, daß zwischen staatlichem und
kriminellem Verhalten und Handeln nicht mehr zu unterscheiden sei.

Eine neue Erkenntnis ist das nicht, geahnt hat man das schon längst. Oder wer glaubt
ernsthaft, daß die sagenhaften Vermögen der Oligarchen allein durch das Handeln
ordentlicher, rechtschaffener Kaufleute zusammengetragen worden sind. Und wer glaubt
ernsthaft, daß das Zusammenraffen dieser Reichtümer nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion und der GUS ohne Zutun, Duldung, Unterstützung staatlicher Stellen erfolgen
konnte. Und wer glaubt zuletzt ernsthaft, daß die Konsolidierung und Legalisierung dieser
seltsamen Imperien privater Habgier in international operierende Großkonzerne ohne aktive
oder passive Hilfe und Unterstützung des Apparates möglich war. Was ist der Preis dafür?
Natürlich derjenige, daß im Rahmen eines Gentlemen´s agreement die Oligarchie die
gottgewollte Ordnung des Kremls akzeptiert, diese stützt, trägt und nicht in Frage stellt, ihr
dient und ihr etwas vom Kuchen abgibt, während die gottgewollte Ordnung des Kremls im
gegenseitigen Eigennutz schützend, behütend und hinter dem Vorhang scheinrechtsstaatlicher
Ordnung verschleiernd die mächtige Hand darüber hält. Es ist eine derartig verflochtene
Symbiose zwischen Baum und schmarotzender Rankpflanze entstanden, daß man nicht mehr
sagen kann, was noch Baum ist - und schon Rankpflanze.

Entscheidend ist hieran nicht die scheinbar neue Erkenntnis, sondern die Bestätigung
einerseits dessen, was man an sich schon wußte, durch staatliche Interna, andererseits die
ernüchternde Erkenntnis, daß die Staatengemeinschaft nicht allein in der sprichwörtlichen
Weltregionen der Bananenrepubliken, sondern es direkt vor der Haustür mit einer Großmacht
zu tun hat, bei welcher man nicht mehr genau zu sagen vermag, ob man mit einem honorigen
Vertreter des Staates verhandelt oder schlicht einem Mafiapaten, und diese ketzerische Frage
nicht auf irgendwelche niederen Chargen beschränkt bleibt, sondern bis in in die höchsten
Höhen reicht.

Was das zu bedeuten hat, ergibt sich aus einer historischen Analogie.

Man wechsele einfach Begrifflichkeiten aus, so wird das Problem schlaglichtartig beleuchtet,
indem man nämlich "Präsident" durch "Zar", "Oligarchen" durch "Aristokraten" oder
"Großgrundbesitzer" und "Volk" durch "Leibeigene" ersetzt. Als hätte es die Oktober- und
bolschewistische Revolution 1917/1918 nie gegeben, steht man plötzlich einem Phänomen
gegenüber, das man nun wirklich längst als Anekdote historischer Schinken zur Qual von
Schülergenerationen zuschrieb. Hatte die im Kern sozialrevolutionäre Umwälzung die
Beseitigung der Autokratie, Ungleichverteilung, der Ungerechtigkeit, der Willkür, der
Entrechtung zum Ziel, war also im eigentlichen Sinne eine Bewegung, die aus den liberalen,
aufklärerischen Ideen des Westens sich speiste, den russischen Koloss also modernisieren und
"verwestlichen" wollte - sei es im Wirtschaftlichen durch Bodenreform, Entfeudalisierung
und Industrialisierung, sei es im politischen durch Entmachtung einer autokratischen Clique
zugunsten des Volkes oder Proletariates; so ist die Entwicklung spätestens seit
Zusammenbruch der Sowjetunion ein schiere Gegenbewegung: Zwar bedient man sich noch
westlich geprägter Bezeichnungen, Fassaden und Rituale (etwas anderes dürfte die Wahl der
Duma wohl nicht mehr sein), dahinter aber erhebt sich der Geist der Autokratie, der
Selbstherrschaft, losgelöst von jeglicher Kontrolle, Legitimation - mit Ausnahme durch die
Macht selbst. Wie seltsam ist es sonst zu erklären, daß ähnlich einem römischen Imperator,
der selbst sich nicht als König oder Kaiser bezeichnete, sondern sich in die Kleider
republikanischer Ämter hüllte, nicht derjenige, dem es von der Verfassung als Inhaber des
Präsidentenamtes zugeschrieben ist, sondern der verfassungsmäßig darunter rangierende, das
ausführende Organ, der Ministerpräsident die Fäden der Macht in Händen hält und die
Marionetten tanzen läßt. Ein Staat also, in welchem nicht das Recht und die
verfassungsmäßige Ordnung, sondern ein Geflecht persönlicher Beziehungen und
Abhängigkeiten, die persönliche, personengebundene Hausmacht bestimmt, wer das Sagen
hat. Dahinter erhebt sich der Geist, der den Zarenstaat schon prägte. Eine Ordnung die darauf
beruht, daß das Haupt dieser Ordnung eine dünne Schicht, ein Clique gewähren läßt, sich zu
Lasten des Volkes, der "Leibeigenen" bereichern läßt - divide et impera - gebunden an einen
persönliche Treueid, diese gegenseitig nutzbringende Symbiose zu dulden und zu stützen und
Gegnerschaft im Keim zu ersticken. Wer in diesem Hofstaat nicht mitspielt, wird in
Verbannung geschickt, entmachtet, enteignet, vernichtet. So dient das Beispiel Chodorowskis
als staatstragender Fetisch, als Drohkulisse für alle Mitglieder des Hofes, was passieren
würde, wenn man zweifelt und sich auflehnt. Chodorowski sozusagen als moderne Version
des Dekabristen, des Aristokraten, der sich gegen die Zarenherrschaft auflehnte und mit der
Verbannung gestraft wurde.

Was sich hier also erhebt, ist nichts anderes als die Wiederbelebung eines Untoten, eines
Anachronismus, einer autokratischen Ordnung, wie sie den Zarenstaat bis 1917 prägte, mit
einer "Elite", die sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zwecks Machterhaltes intuitiv bewußt
ist, die sich abgrenzt und erhebt über den Rest eines Volkes, das in Sachen wirtschaftlicher
Prosperität, politischer, rechtsstaatlicher Sicherheit, Stabilität, Vertrauen in den Stand der
Willkür gegenüber dem Leibeigenen zurückversetzt ist.

Und ist es nicht eine Ironie der Geschichte, daß die Beschreibungen des Auftretens russischer
Magnaten aus dem 19./20. Jhd in diversen westlichen Kurbädern fatal den Eindrücken ähneln,
die man vom Auftreten moderner Oligarchen in den mondänen Orten unserer Welt gewinnt?

Das Problem solcher Regime ist, so effektiv sie zunächst auch im alltäglichen erscheinen
mögen, nicht nur das exorbitante Aufzehren innerer Ressourcen durch den Hunger, den die
Schattenwirtschaft entwickelt, die Gier nach mehr, die es zu stillen gilt, weil es der Preis für
die alein auf persönlicher Verflechtung fußende Ordnung ist. Weitergehend ist das
Damoklesschwert, das über dem Bestand einer solchen, parasitären Ordnung schwebt, das
Problem der Nachfolgeregelung. Während in Gesellschaften, deren rechtsstaatliche Struktur
funktioniert, die Nachfolge ohne weiteres aus den verfassungsrechtlichen Regelungen
abzulesen ist und einen juristischen Automatismus in Gang setzt, an dessen Ende ein
vorhersehbares Ergebnis steht, während Einparteiensysteme (wie China) wenigstens durch
den Parteiapparat eine Regelung getroffen haben, die in der Lage ist, die Macht zu
abstrahieren, von der Personenbindung weg auf eine Legitimation oder Herleitung aus dem
Machtanspruch einer unpersönlichen Partei zu beziehen, welche einen geregelten
Machtübergang - wenn auch nicht in unserem demokratisch legitimierten Sinne - garantieren
kann, lehrt der Blick in die Geschichte, daß dies gerade dort nicht gelingt, wo die
Machtausübung allein an die Person des Machtausübenden gebunden ist, der sie aus seiner
höchstpersönlichen Hausmacht, aus seinem allein von ihm in einer Hand
zusammengehaltenen Gestrüpp persönlicher Beziehungen und Abhängigkeiten herleitet. Tritt
dieser Herrscher ab, sei es, daß er stirbt, freiwillig verzichtet (in den seltensten Fällen) oder
gestürzt wird, geht die Achse der Macht verloren. Die Folge ist der verdeckte oder offene
Kampf um die Nachfolge, Palastrevolutionen, Putsch - das, was man unter dem Begriff der
Diadochenkämpfe kennt. Am Ende, wenn hierüber nicht die Ordnung komplett zerfällt und
damit regelmäßig auch das Staatsgebiet, wenn die Zentralmacht nicht den Einfluß auf die
Regionen verliert, steht der nächste "starke Mann", der sich durchsetzt. Als Beispiele seien
genannt die Diadochenkämpfe (Diadoche heißt nichts anderes als Nachfolger) nach
Alexander dem Großen. Auch den römischen Kaisern ist es, selbst wenn sie es wie im julisch
- claudischen Kaiserhaus, unter den Flaviern, Severern, auch unter den Adoptivkaisern und
der Antonine versuchten, eine geordnete, friedliche Machtübergabe zu installieren, nie,
jedenfalls nie auf auch nur mittelfristige Dauer gelungen, die Machtweitergabe zu
konstituieren. Regelmäßig kam es zu Brüchen, die ebenso regelmäßig in
bürgerkriegsähnlichen Zuständen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und Einflußnahme von
außen oder Export der Gewalt nach außen mündeten. Diokletian erkannte das Problem und
wollte es durch Teilung der Macht auf insgesamt vier Mitregenten lösen, war der einzige
Kaiser, der freiwillig zurücktrat - und scheiterte. Trotz seiner Rückkehr an die Schalthebel
war einziger Effekt von Dauer die endgültige territoriale Teilung. Ebenso erging es
sämtlichen byzantinischen Kaiserhäusern, die die Nachfolge regelmäßig durch Erdrosselung
des Vorgängers regelten. Die Geschichte des Moguls Shah Jahan ist uns allgemein höchstens
als tragische Liebesgeschichte bekannt, wonach der Erbauer des Taj Mahal aufgrund der
Kosten für dieses Bauwerk entmachtet und fürderhin aus seinem (allerdings nicht
unbequemen) Kerker schmachtend hienüber zum Grabmal seiner Geliebten blicken mußte.
Tatsächlich wurde er - in einem Moment der Schwäche - Opfer einer Palastrevolution seines
eigenen Sohnes Aurangzeb, der damit seinem eigenen Bruder zuvorkam. Und blickt man in
die Geschichte des zaristischen Rußlands, so muß man feststellen, daß das Ableben so
manchen Selbstherrschers durch seinen Nachfolger ein wenig beschleunigt wurde. Zuletzt sei
Stalin nicht zu vergessen, dessen eventuell ebenfalls nicht ganz freiwilliger Tod einen
Machtkampf zwischen Beria und dem NKWD auf der einen und Chruschtschow, Schukow
und dem Militär auf der anderen Seite auslöste, an dessen Ende der Tod Berias stand, der
kurzerhand in seinen eigenen Folterkellern der Lubjanka erschossen wurde. Ironie der
Geschichte, gelang es Chruschtschow im Rahmen der Entstalinisierung die Partei wieder zum
eigentliche Inhaber der Macht zu machen, diese also zu entpersonalisieren, während die Partei
unter Stalin zum Handlanger der Machtausübung degradiert worden war, so war es gerade
diese Partei, die Chruschtschow ihrerseits vom Thron stieß und von da an die Nachfolge in
halbwegs geregelte Bahnen leitete.

Es sei hier darauf hingewiesen, daß es Putin wie Stalin gelungen ist, eine Partei - "Einiges
Rußland" - zu installieren, die nichts anderes ist, als Scheinlegitimation und Handlanger wie
unter dem genannten historischen Vorbild. Insofern für solche Situationen charakteristische
Anzeichen eines Personenkultes sind ebenso wenig von der Hand zu weisen.

Fatal an solchen Regimes, wie es letztlich das "moderne" Rußland ist, ist die Tatsache, daß
ein Gutteil seiner Stabilität und Akzeptanz sich daraus gründet, daß es aufwärts zu gehen
scheint. Solange es prosperiert, wirtschaftlichen Erfolg hat, und man an diesem teilhat,
erscheint es stabil. Tritt aber die ökonomische Krise hinzu, verliert das Regime die einzige
Legitimation, die es aufzuweisen hat: den Erfolg der Machtausübung. Fatal an einem solchen
Regime aber ist weiterhin, daß sich dieser wirtschaftliche Erfolg schnell und immer stärker
selbst beweisen muß, also stets den Effekt eines Raubbaues unter Verzicht auf jegliche
Nachhaltigkeit mit sich bringt. Je größer aber ein Stern ist, je schneller er seine Ressourcen
verbrennt, desto stärker bläht er sich auf, um in recht kurzer Zeit als Super nova zu verglühen.
Der strahlende Erfolg ist also lediglich ein augenscheinlicher, kurz bemessener. Und
betrachtet man das "moderne" Rußland von der wirtschaftlichen Seite, so stellt man
zweifelsohne diese Eigenschaften fest: Ein Raubbau an Ressourcen und Umwelt, eine
rücksichtslose Ausbeutung, eine Anhäufung gigantischer Reichtümer und eine einseitige
Fixierung auf das schnelle Geld, auf eine einseitige Orientierung der Wirtschaft auf das
schnelle Wachstum durch Konzentration auf Rohstoffe.

Was also die jetzt veröffentlichten Notizen neben dem Offensichtlichen belegen und für die
nahe Zukunft erahnen lassen ist, daß Rußland trotz all seiner Stärke und Machtdemonstration
ein hochgradig instabiles Gebilde ist. Wie sehr, wird sich zeigen, wenn die scheinbar
überstandene ökonomische Krise zurückkehrt, wenn ein Machtwechsel an der Spitze ansteht.
Und die Gefahr besteht, daß sich diese vorprogrammierte Systemkrise nicht allein durch nach
innen gerichtete Aggressivität entlädt, sondern sich auch andere Ventile sucht.

Zum anderen, sehr konkret auf unsere politische Situation bezogen, ergibt sich aber noch ein
anderer, hochgradig peinlicher Schluß. Daß Deutschland als Staat nicht umhinkann, mit
einem solchen Staat, der eindeutig mafiöse, wie kriminelles Strukturen aufweist, in Kontakt
bleiben muß, ist ein realpolitischer Zwang, der nun einmal nicht von der Hand zu weisen ist -
es ist allein eine Frage des "Wie".

Daß diese kriminell - mafiöse Durchsetzung des Staates Rußland, diese Verwebung
organisierter eigensüchtiger illegaler, halblegaler Aktivitäten mit Exekutive, Legislative und
Judikative nicht dabei stehen bleibt, diese Verbindung zu weitern kriminellen Aktivitäten zu
nutzen, sondern von der Schattenwirtschaft auf die staatliche Struktur, die "offizielle
Wirtschaft", seien es nun private, staatliche oder halbstaatliche Konzerne überspringt, und
unter Aufhebung einer originär staatlichen Fürsorgepflicht, nämlich der
Kriminalitätsbekämpfung, zu einer Verschmelzung an sich diametral entgegengesetzter
Interessen so weit führt, daß man zwischen den Interessen des Staates und denjenigen
organisierter Kriminalität nicht mehr unterscheiden kann, ist ein Charakteristikum, das man in
Ansätzen bereits von der italienischen Mafia und den seltsamen Verdachtsmomenten
gegenüber diversen italienischen Regierungen, besonders derjenigen unter Berlusconi kennt,
ohne daß - hoffentlich - dort bisher der Mafia eine so weitgehende Übernahme des
Staatsapparates in Breite und Tiefe gelungen ist.

Daß aber ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler ohne weiteres, ohne jegliche Bedenken,
ohne Skrupel oder auch nur den Hauch eines Gewissensproblemes (und das Gewissen ist
zuwenigst jene unsichtbare Grenze, an welcher man stehen bleiben sollte und innerlich
aufschreien sollte: "Halt, bis hierhin und nicht weiter!", selbst wenn die für jeden sichtbare
Grenze scheinbarer Legalität noch längst nicht erreicht ist) den Posten eines
Aufsichtsratsvorsitzenden einer Briefkastenfirma eines staatlichen oder halbstaatlichen
russischen Konzerns annimmt, ist vor dem Lichte der Veröffentlichung über Wikileaks der
eigentliche Skandal.

Selbst wenn man zugute hält, dieser ehemalige Bundeskanzler wirke nicht aktiv mit, selbst
wenn man die Augen davor verschließt, daß vor dieser Veröffentlichung das immerhin
höchste Organ der Exekutive dies alles in seinem Umfang, im Detail, im aktiven Prozeß so
nicht erahnen konnte, so ist allein die Tatsache, daß sich dieser als Galleonsfigur oder
schärfer: Marionette benutzen läßt, um einem Konzern mit solchem Hintergrund die Weihen -
und Beziehungen - eines elder statesman zu verschaffen, untragbar.

Wenn man nämlich aus der historischen Rückschau den Anspruch und den Vorwurf
gegenüber jedem einfachen Soldaten der Wehrmacht erhebt, Mitglied einer verbrecherischen
Organisation und eines verbrecherischen Handelns gewesen zu sein und dies nicht erkannt zu
haben, wie sehr muß ein solcher Vorwurf erst erhoben werden, wenn ein ehemaliger
Bundeskanzler sich zum Aushängeschild eines Konglomerats macht, von welchem die
Diplomaten eines verbündeten Landes die Einschätzung abgeben, daß zwischen legalem und
illegalem Handeln in Form mafiöser Strukturen nicht mehr zu unterscheiden sei.

Und läßt man sich vor diesem Hintergrund die Äußerungen zu damals erhobenen Bedenken
und Vorwürfen noch einmal durch den Kopf gehen, so ist die flapsige Bemerkung, bei Herrn
Putin handele es sich um einen lupenreinen Demokraten, nicht allein ein an Arroganz und
Ignoranz kaum zu überbietender Schlag ins Gesicht, sondern es stellt sich dann weitergehend
die Frage, ob einem Politiker, der Aufgrund seiner Stellung doch sicherlich ebensolche
Kenntnisse über eigene diplomatische oder sonstige Quellen haben mußte wie die engsten
Verbündeten, sich darauf zurückziehen kann, er habe von nichts eine Ahnung gehabt, oder
seine Rolle nicht bereits die Grenze von passiver Ahnungslosigkeit zu aktivem Dulden
überschritten hat.

Will ein solcher ehemaliger Staatsmann nicht jegliches Ehrgefühl, jeglichen Anschein von
Seriosität verlieren, so müßte er eigentlich spätestens jetzt wissen, was zu tun ist.

Daneben, und insofern zukunftsweisend ist aber der Schaden zu bewerten, den ein solches
Verhalten in Form negativer Vorbildwirkung bereits angerichtet hat. Wie soll dem einzelnen,
dem kleinen Rädchen im Getriebe, dem Beamten in der Verwaltung - bis hin aber auch zu den
politischen und wirtschaftlichen Eliten - begreifbar gemacht werden, sich nicht allein an das
formelle Recht, sondern an die Grenze des eigenen Gewissens, also letzlich auch an den
kategorischen Imperativ zu halten, wenn es - ohne einen Aufschrei der Empörung - höchsten
Vertretern unserer Gesellschaft offenbar gestattet ist, sich konsequenzlos für Dinge
herzugeben, deren Charakterisierung als anrüchig noch das Mildeste ist, was man dazu sagen
kann.

Wenn so lupenreine Demokraten aussehen, so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auch
wir in absehbarer Zeit uns russischen Vorbildern immer stärker annähern.

Mehr dazu: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,732352,00.html

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