Entnazifizierung 2.0 Teil 1/3

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Entnazifizierung 2.0 Teil 1/3

von polis am 23.11.2011 18:08

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Entnazifizierung 2.0 Teil 1/3
von polis-Gastautor Kamuran Sezer


Kamuran Sezer


Nach den Mordanschlägen durch Rechtsextreme wird gefordert, den Kampf gegen Rechts aufzunehmen und auszuweiten. Dies wird nicht ausreichen. Vielmehr muss die deutsche Gesellschaft hinterfragt und auf den Prüfstand gestellt werden.

Es ist ein ungeheuerlicher Akt, der die Öffentlichkeit und Politik erschüttert hat und das Misstrauen insbesondere der türkischen Bevölkerung gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach den Anschlägen in Mölln (1992) und Sollingen (1993) vom Neuen entfacht hat.

Drei Rechtsextreme haben sich vor über zehn Jahren in den Untergrund abgeseilt und haben mit neonazistischem Unterstützernetz mindestens zehn Menschen gezielt hingerichtet. Es waren gezielte Hinrichtungen – anders kann man die Taten bisher nicht bezeichnen.

Alleine dieser Umstand ist ein Skandal unermesslichen Ausmaßes und ein riesiger Imageschaden für Deutschland, das aufgrund seiner Geschichte im empfindlichen Blickfeld der internationalen Gemeinschaft steht.

Nun haben sich in den vergangenen Tagen die Hinweise verdichtet, dass der deutsche Verfassungsschutz in dieser Sache im besten Fall versagt und im schlimmsten Fall verwickelt war. Dies ist die größte anzunehmende Katastrophe für einen Rechtsstaat – insbesondere für den Deutschen. Wieso?

Die Machtübernahmen durch die Nationalsozialisten in der Weimarer Republik und die Einrichtung einer nationalsozialistischen Diktatur erforderte und führte zu einer Verankerung ihrer Hassideologie in die institutionellen Strukturen der damaligen Gesellschaft, die auch im Nachkriegsdeutschland und darüber hinaus wirkte – trotz der so genannten Entnazifizierung der damaligen Gesellschaft.

Nun wäre es überzogen, trotz dieser ungeheuerlichen Akte und nach gegenwärtiger Informationslage dem Verfassungsschutz oder sonst einem anderen rechtsstaatlichen Organ eine Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen. Es wäre jedoch weder neu noch überraschend, wenn der Verfassungsschutz und andere rechtsstaatliche Organe heute noch die eigene Geschichte und historische Rolle im Nationalsozialismus verdrängen.

Eine zur Amtszeit von Joschka Fischer eingesetzte Historikerkommission zeigte auf, wie sehr das Außenministerium in die Verbrechen der Nazidiktatur verwickelt war. Erst 2010 wurden die Ergebnisse an den ehemaligen Außenminister übergeben, der über die Studie erschüttert war.

In den 1990er Jahre, also nach mehr als 50 Jahren nach der NS-Diktatur, wurde aufgearbeitet, welche Rolle die Industriebetriebe und Banken im Nationalsozialismus gespielt haben. Fast jedes Unternehmen und jede Bank beschäftigten unzählige Historiker, die aufklären sollten. Und Erschreckendes wurde zutage gefördert. Nicht nur Zwangsarbeit – Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen haben sich am Leid der Menschen bereichert, Eigentümer, Policen und Erspartes einbehalten.

Wenn nun – wie erwartet – eine Kommission eingerichtet wird, die untersuchen soll, ob und inwiefern der Verfassungsschutz und sonstige rechtsstaatliche Organe versagt haben oder gar verwickelt gewesen sein sollen, dann dürfen nicht nur diese Fragen im Vordergrund stehen:

  • Wurden die drei Rechtsextremen durch den Verfassungsschutz oder einem anderen rechtsstaatlichen Organ unterstützt oder begünstigt – sei es durch bewusstes Ignorieren? Es darf nicht übersehen werden, dass die Morde mit innertürkischen Konflikten aber nicht mit rechtsextremen Motiven in Verbindung gebracht wurden?
  • Wie haben sich diese Rechtsextremen finanziert, ihren Lebensunterhalt bestritten?
  • Wie haben sie ihre Taten geplant? Die Blutspur der Täter über viele Jahre und quer durch die Republik drängt auch zur Frage, ob die Täter die föderalen Strukturen genutzt haben, um Ermittlungsarbeiten zu erschweren und Spuren zu verwischen? Wenn ja, waren diese drei Täter überhaupt in der Lage solches strukturelle Wissen strategisch zu durchdenken und anzuwenden?

Wieso haben die Ermittler rechtsmotivierte Taten ausgeschlossen? Gab es nur akute Hinweise darüber, dass die Taten aus innertürkischen Konflikten resultierten? Wurden rechtsradikale Motive bewusst ausgeschlossen, um den Ruf Deutschlands im Ausland nicht zu schaden?

Nicht nur diese Fragen sind relevant und akut! Der Verfassungsschutz und andere Organe müssen auch die Frage aushalten und beantworten, ob in ihrem Inneren Sympathieträger und Unterstützer für die rechtsextreme Hassideologie existieren? Und wenn ja, wie konnten sie Eingang in diese Institution finden?

Vor allem sollte der Verfassungsschutz diese schrecklichen und traurigen Ereignisse auch dazu nutzen, um ihre Rolle und Geschichte im Nationalsozialismus aufzuarbeiten und zu hinterfragen. Doch damit sind die Konsequenzen aus den zehn Hinrichtungen längst nicht am Ende!

Lesen im zweiten Teil von "Entnazifizierung 2.0": Die multiethnische und -religiöse Gesellschaft heute ist ein Tatbestand. Man muss sie nicht mögen, man kann sie ablehnen oder sie ignorieren. Sie kann aber nicht mehr rückgängig gemacht werden! Und wenn – dann nur durch ausgrenzen, abschieben oder töten!

zu Teil 2

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Der Autor, ist Diplom-Sozialwissenschaftler, Berater und Publizist sowie Gründer und Inhaber des futureorg Instituts für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung mit Sitz in Dortmund.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 23.11.2011 18:38.

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