Die Morde der Neo-Nazis : Das eigentliche Thema heißt Rassismus!

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Die Morde der Neo-Nazis : Das eigentliche Thema heißt Rassismus!

von polis am 18.11.2011 12:55




Die Morde der Neo-Nazis : Das eigentliche Thema heißt Rassismus!
von polis-Gastautor Philipp Freiherr von Brandenstein


von Brandenstein

Über zehn Jahre hinweg mordeten neo-nationalsozialistische Verbrecher in Deutschland. Ein in den letzten Jahren technisch hochgerüsteter, aber offenbar impotenter Verfassungsschutz, dessen V-Leute einzig ein Verbot der NPD unmöglich machten, war bestenfalls machtlos, schlimmstenfalls vielleicht sogar in Teilen verstrickt. Das lange umstrittene "V-Leute"-System erweist sich als ethisch inakzeptable Komplizenschaft überforderter bis indifferenter Behörden mit dem brauen Mob.

Die Nachrichten schockieren jeden von uns, doch die von der Politik vielfach geäusserte Überraschung ist geheuchelt. Wie problematisch der Einsatz von V-Leuten ist, wissen wir seit dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren im Jahre 2003. Was haben die Innenpolitiker und ihre Behörden seitdem getan? Sie haben die Zahl der staatlich bezahlten Nazis noch weiter erhöht.

Auch das braune Gewaltpotential kennt jeder Jugendliche. Seit Jahren prügeln und morden rechte Gewalttäter. Nur wurde längst nicht jeder von Rechten begangene Angriff oder Mord - bspw. an Obdachlosen - als politisch motiviertes Verbrechen registriert. Mittlerweile verstecken sich Kameradschaften und Skinheads nicht einmal mehr, sondern marschieren ganz offen durch Dortmund, Wunsiedel und Dresden. Oft genug schützt die Polizei die Neonazis besser als die Gegendemonstranten.

Nennen wir es beim Namen! Dieser Staat hat beim Schutz seiner Bürger - und genau das waren die Opfer - jämmerlich versagt. Doch ist dies nicht in erster Linie ein technisches oder gar ermittlungstechnisches Problem. Der Staat hat und hatte alle Mittel. Natürlich müssen Doppelstrukturen, Kompetenzüberschreitungen und rechtsstaatlich fragwürdige Methoden von der Politik thematisiert werden. Die Ansätze der Bundesjustizministerin gehen hier durchaus in die richtige Richtung.

Wichtiger noch erscheint es aber, endlich über den gesellschaftlichen Nährboden des braunen Terrorismus und seine geistigen Grundlagen zu reden. Wir müssen über das Phänomen Rassismus in Deutschland sprechen, das in den letzten Jahren alle Schichten und Milieus erfasst hat. Denn sowohl die Ursachen der Tat wie auch des Versagens des Staates selbst liegen in dem tief in die Mitte der Gesellschaft eingedrungenen Rassismus begründet, der auch von den verantwortlichen Innenpolitikern nicht selten genug befördert wurde. Wer die "Metaphorik des bewaffneten Kampfes gegen Einwanderung" ins Spiel bringt (so Jörg Lau in DIE ZEIT), indem er ankündigt, sich "bis zur letzten Patrone" gegen "eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme" zu stemmen, kann sich nicht um seine Verantwortung für gesellschaftliche Fehlentwicklungen drücken.

Nicht zuletzt von der Politik befeuerte fremdenfeindliche Tiefenströmungen haben wohl auch dazu geführt, dass die Opfer kriminalisiert wurden und dazu, dass nicht einmal in die rechte Richtung ermittelt wurde. Die mit den Morden in Nürnberg befasste Sonderkommission trug den Namen "Bosporus". Als Tatverdächtige galten der bayerischen Polizei "kriminelle Ausländer" - die Opfer auch. Unter den Ermittlern selbst gab es offenbar kaum jemanden "mit Migrationshintergrund". Hat der Staat versagt, weil man in den Sicherheitsbehörden die meist türkischstämmigen Opfer eben nicht als vollwertige Bürger ansah? Die Auswirkungen solcher Denkschemata bei Behörden und im Sicherheitsapparat werden von Soziologen und Kriminologen unter dem Begriff "institutioneller Rassismus" gefasst. Institutionelles Versagen und geistige Ursachen der Untaten fallen hier verhängnisvoll zusammen.

Diese Einsichten sind schmerzhaft, mahnen an eigene Verantwortung und werden gerade daher von der Politik gemieden. Auch nach Tagen der Diskussionen über die Neonazi-Morde konnten sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft und ihre führenden Repräsentanten noch immer nicht zu glaubwürdigen Zeichen der Solidarität mit den Opfern der rassistisch motivierten Morde aufraffen. Trotz all oder vielleicht wegen dieser Autoreferenzialität des Diskurses unterbleibt bisher eine selbstkritische Ursachenforschung. Dies vor allem seitens der politischen Entscheidungsträger, die sich offenbar nur schwer von anachronistischen Mythen und Formeln lösen können. Doch welche Wegweisung kann und muss die gesamte deutsche Gesellschaft nach den Morden von ihrer Führung verlangen?

Erforderlich und geboten sind eine breite gesellschaftliche Diskussion über Rassismus, eine Abkehr von der Politik des Sündenbocks, ein längst überfälliger Abschied von einem völkischen Staatsvolkverständnis und lächerlich anachronistischen Staatsbürgerschaftsrecht sowie ein unmissverständliches Bekenntnis zur multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft, die längst ein Faktum darstellt und keine Frage des Gusto. Letzteres wäre nicht nur ein Zeichen des Realitätssinns, sondern auch des politischen Anstandes und ein glaubwürdiges - wenngleich schrecklich spätes - Zeichen der Solidarität und Brüderlichkeit.

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Der Autor diente ab Anfang 2007 als Chief-of-Staff von Karl-Theodor zu Guttenberg in Berlin. Diesem folgte Brandenstein Ende 2008 als Leiter Strategie und Kommunikation in die Landesleitung der CSU. In dieser Funktion - verantwortlich für die Kampagnenführung der CSU - erstellte Brandenstein ein vertrauliches Strategiepapier, in welchem er gegen eine "Anti-Türkei-Kampagne" der CSU bei den Europawahlen 2009 Stellung nahm. Inzwischen ist Philipp von Brandenstein aus der CSU ausgetreten.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 18.11.2011 13:44.

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