Demokratie als Partizipation

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Demokratie als Partizipation

von polis am 22.10.2009 11:58




Kein Liberalismus ohne Sozialkomponente – Anmerkungen zum 150. Geburtstag des amerikanischen Philosophen John Dewey.
Von Hans-Martin Schönherr-Mann
(veröffentlicht in der Wochenzeitung der Freitag)



Demokratie als Partizipation

Dass es in der Erfahrungswelt keine absoluten Wahrheiten gibt, diese Behauptung, die von Nietzsche ausgeht und auf die sich die postmoderne Philosophie besonders intensiv bezieht, hat viele geärgert, gläubige Katholiken genauso wie hartgesottene Rationalisten. Dabei stellt auch die erste große originär amerikanische Strömung in der Philosophie, der Pragmatismus, am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. in Frage, daß es jenseits von Mathematik und Logik ewige beziehungsweise unveränderliche Wahrheiten gebe, die für die Lösung praktischer Probleme eine Rolle spielen.


John Dewey

Wahrheiten müssen sich vielmehr in der Welt bewähren, sie müssen nützen. Wenn sich die Ziele und Zwecke ändern, die man verfolgt, verblassen auch jene Wahrheiten, die man nicht mehr braucht. Wahrheiten erweisen sich als Mittel des Denkens, die man benutzt, nicht als fixe Orientierungen, denen man sich unterwirft oder denen man sich anpaßt.

Der Pragmatismus entsteht im Zeitalter der großen Ideologien des Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus, die nicht endende beziehungsweise nicht lösbare Konflikte vom Zaun brechen. Das möchte der Pragmatismus dadurch vermeiden, daß er sich allein auf konkrete Probleme konzentriert, die sich lösen lassen, wenn man von weltanschaulichen Prinzipien absieht. Das Wort pragmatisch greift zuerst Charles Sanders Peirce auf, einer der Begründer des Pragmatismus. Ein anderer, William James, gibt dann 1898 dieser philosophischen Richtung diesen Namen.

Der Pragmatismus schließt an den Liberalismus an. Doch während es dem klassischen Liberalismus um die Brechung der absolutistischen Fesseln des Marktes ging, verteidigt der Pragmatismus das amerikanische System, möchte dieses aber wohlfahrtstaatlich ergänzen. Doch die europäische Geisteswelt nahm die US-amerikanische Philosophie lange Zeit kaum wahr, ihre Vertreter blieben ihr weitgehend unbekannt. Erst langsam wurden deren Texte ins Deutsche übertragen.

Renaissance des Pragmatismus

Während der deutsche Neomarxismus den Pragmatismus als kapitalistische Ideologie kritisierte, schließen heute indes zunehmend unterschiedliche philosophische Strömungen an den Pragmatismus an, sei es erklärtermaßen der Neopragmatismus Richard Rortys, die Diskursethik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas oder die hermeneutische Postmoderne von Gianni Vattimo.

John Dewey (1859-1952), Professor für Philosophie an der Columbia Universität in New York, heute vor genau 150 Jahren geboren, gehört zusammen mit George Herbert Mead zur zweiten Generation des Pragmatismus. John Dewey war am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne jeden Zweifel der einflussreichste amerikanische Philosoph, ein Einfluß, der sich allerdings vornehmlich auf die USA beschränkte.

Er traute sich noch zu, zur ganzen Palette philosophischer Subdisziplinen, also Ästhetik, Religionsphilosophie, Ethik, Logik jeweils Bücher vorzulegen. Gleichzeitig beteiligte er sich während seines ganzen Lebens an den großen öffentlichen Auseinandersetzungen. Das kann man imgrunde nur mit der Rolle Jean-Paul Sartres in Frankreich oder von Jürgen Habermas in Deutschland vergleichen. Dewey war in diesem Sinn ein öffentlicher Intellektueller und zugleich ein akademisch etablierter philosophischer Denker.

Wiewohl sich Dewey sich um absolute Wahrheiten und ideologische Prinzipien nicht mehr kümmern möchte, so orientiert er sich doch immer stärker an den Wissenschaften, hofft er auf die wissenschaftliche Beherrschbarkeit der Welt. Doch darin beschränkt sich Deweys Position nicht. Zumindest ist er kein Positivist. Doch für ihn steckt in der Wissenschaft ein spezifisches Rationalitätspotential.

Ethische Kreativität

Wenn er fordert, man solle sich in Fragen der Moral und der Politik an der Wissenschaft orientieren, dann erwartet er allerdings nicht, dass man diese Fragen mit wissenschaftlichen Mitteln lösen kann, sondern nur, dass man sich um dasselbe hohe Niveau an Rationalität wie in den Wissenschaft bemühen soll.

Dewey beschränkt sich dabei nicht auf die Frage, welche ethischen Normen allgemein gültig sein sollten. Er orientiert die Ethik vielmehr in der Hinsicht an den Naturwissenschaften, wie diese längst erkannt haben, dass sich die Natur in einem permanenten Prozeß des Wandels befindet. Umfassende Vorstellungen davon bleiben vage. Auch in der Ethik kann man sich nicht mehr schlicht absolut gültigen Normen unterwerfen, gerade wenn es um das konkrete Handeln der Menschen geht.

Man muß vielmehr die Komplexität der Situation bedenken, in der man handeln möchte. Das Problem der Ethik stellt sich für Dewey nämlich als eine komplexe, riskante und auf die Zukunft hin offene Handlungssituation, in der verschiedene Handlungsoptionen miteinander konkurrieren. Ohne eine ethische Kreativität lassen sich daher ethische Handlungsprobleme nicht lösen.

Auch in der Politik kann man sich auf keine absoluten ethischen Werte mehr berufen, die ja in der abendländischen Tradition gemeinhin einen religiösen Hintergrund haben. Der Pragmatismus folgt hier der US-amerikanischen Verfassungstradition. Die USA vereinigten bei ihrer Gründung zahlreiche vor allem christliche Kirchen und Sekten. Eine einheitliche Staatsreligion auszurufen, hätte wohl in jene leidvollen Erfahrungen der europäischen Religionskriege des 17. Jahrhunderts zurückgeführt.

Kollektive Selbstbestimmung

Die Trennung von Staat und Religion wie ein religiöser Pluralismus stellen politische Grunderfahrungen der Staatsgründung in den USA dar: Man kann die Bürger weder religiös noch politisch bevormunden. An diese demokratische Tradition schließt John Dewey an. Demokratie stellt für ihn dabei keine bloße Regierungslehre dar, sondern erstreckt sich auf die politische Kultur: Es geht um die kollektive Selbstbestimmung der Bürger eines Gemeinwesens, was die bestehenden demokratischen Institutionen häufig nur unzureichend einlösen.

Dewey fordert vom Bürger, sich aktiv an der Politik zu beteiligen. Aus dem gemeinsamen demokratischen Handeln der Menschen entsteht das Gemeinwesen, das sich aus freien Individuen, aus politisch mündigen Bürgern zusammensetzt, nicht aus Untertanen. Liberalismus heißt in diesem Sinne umfassende politische Partizipation der Bürger.

Doch Dewey versieht diese Form des Liberalismus zudem mit einer sozialstaatlichen Komponente, die in den USA eher weniger entwickelt ist. Dabei trat er auch durchaus für die Lenkung der Wirtschaft ein, deren Zügellosigkeit sich in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 ja als fatal erwiesen hatte. Aber nicht eine ideologisch motivierte Sozialisierung im Stile der Sowjetunion schwebte ihm vor, sondern eine rational organisierte und mit wissenschaftlichen Methoden gesteuerte Wirtschaftsentwicklung.

Grundsätzlich verzichtet heute kein Staat mehr auf Wirtschaftspolitik, also auf Eingriffe in den Markt. Derart versuchte man 2008-09 der globalen Finanzkrise sofort tatkräftig von Seiten der Staaten aus zu begegnen. Der Zentralgedanke des Liberalismus ist als für Dewey jedenfalls nicht die Freiheit des Marktes.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 22.10.2009 12:33.

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