Brief an die Vorstände der Partei und der Bundestagsfraktion DIE LINKE

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polis
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Brief an die Vorstände der Partei und der Bundestagsfraktion DIE LINKE

von polis am 30.04.2011 10:48




hier mein offener brief zur verbesserung der parteikultur und für eine strategie, der vielleicht in zeiten, da über fairplay und eine mannschaft diskutiert wird, etwas gehör finden kann - er wurde nie beantwortet leider - seine vorschläge bleiben aktuell, denke ich" (Frigga Haug)



Brief an die Vorstände der Partei und der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Betrifft nicht so sehr das Programm als vielmehr die Diskussionskultur in der Partei

von polis-Gastautorin Frigga Haug



Frigga Haug


Liebe Vorsitzende

Dies ist so etwas wie ein offener Brief an Euch, weil er das Parteileben anspricht, für das auch ihr zuständig seid. Wiewohl meine Sorge der allgemeinen Frage von Hegemoniegewinnung für unsere so kleine Partei gilt, konzentriere ich mich hier auf die Programmdiskussion, für die ich mich besonders verantwortlich fühle. Ich erinnere kurz, dass Oskar und Lothar mich offiziell beauftragten, den Programmentstehungsprozess feministisch zu begleiten, dass ich in diesem Kontext eine umfangreiche internationale Umfrage durchgeführt habe, ein Buch herausgab – Briefe aus der Ferne – und in unzähligen Debatten, Seminaren, Konferenzen, Vorträgen im ganzen Land dafür spreche, die Vier-in-einem Perspektive substanziell ins Programm zu nehmen. Ein Vorschlag, der Perspektive ins Programm bringt und den lange entbrannten Streit um den Arbeitsbegriff hegemonial nach vorne in ein vielstimmiges Projekt verschiebt. Der Auftrag wurde auf dem letzten Parteitag 2010 erneuert.

Seit der erste Entwurf freigegeben ist – den ich irgendwie ohne seine Kenntnis „begleitet“ habe – gibt es überall engagierte Diskussionen. Eine ganz unerwartete Diskussionskultur ist entbrannt. Die vielen Mitglieder setzen sich zu einer Art großem Seminar hin und erwägen, wie ihr Programm aussehen sollte. Lange mürrische Duldung und Apathie sind umgeschlagen in das Verlangen, mit zu gestalten. Der Prozess selbst ist ein Stück wirklich gewordener sozialistischer Demokratie. Kritik und Widerspruch werden lebendige Parteikultur. Der Prozess ist in dieser Form neu und in der Parteienlandschaft einmalig. So gibt es noch keine guten Auffangstrukturen, wie weiter zu verfahren ist. Von den Zuständigen wird jetzt ein hohes Maß an Erfindungen und Aufnahme der Impulse erwartet. Niemand denkt, dass dies leicht sei.

Schon mehren sich die Gerüchte, dass alles nur Schein war, eine Art Beschäftigungstherapie, die sich die Führung mit ihrem Partievolk leistete und jetzt ein Ende gesetzt werden solle. Schluss mit der Debatte. Es ist dies nicht der Ort, darüber zu streiten, wie verhängnisvoll dieses wäre und wie sehr das Programm von seiner Wirkung her verkannt würde, wenn nicht der Prozess seiner Entstehung als der eigentliche Politisierungsprozess erkannt würde. Umso wichtiger aber jetzt, darauf zu sehen, wie der weitere Prozess gesteuert wird.

Hier komme ich zur eigentlichen Besorgnis, die mich den Brief schrieben ließ. Zwar ist DIE LINKE nicht die Partei, an die Gramsci aus dem Gefängnis seinen äußerst besorgten Brief wegen der feindseligen Weise schrieb, wie in der Führung gestritten wurde, aber doch ist die Kernfrage geblieben: was von einer Diskussionskultur in der Parteiführung erwartet werden muss, die in der Bevölkerung Hegemonie zu gewinnen sucht. DIE LINKE ist doch eine Partei im Werden, die den Widerspruch und die Kritik zu institutionalisieren sucht, die politische Handlungsfähigkeit verbreitern will, die also auch selbst vorlebt, welche vielfältigen Möglichkeiten es gibt, Meinungsverschiedenheiten auszutragen und gerade dadurch für sich wirbt. Also sozialistische Demokratie in der Diskussion.

Als einzige im europäischen Raum verbliebene Partei trägt hier die LINKE eine internationale Verantwortung. Ein besonders schädigendes Beispiel scheint mir in diesem Kontext der öffentliche Brief von Ralf Krämer vom 14. Dezember zu sein, der an mehreren Orten erschienen ist. Der Stil ist äußerst aufgebracht, diktiert von einem vermeintlichen Oben nach unten, wohin er die stellvertretende Parteivorsitzende abfertigt, um schließlich ihren Stil als „verleumderisch und widerlich“ abzukanzeln. Sein eigener Stil „Diffamierung. Sie verbreitet Ideologie im schlechtesten Sinne, weil sie Aussagen verdreht und offensichtliche Realität schlicht leugnet“ , „Unverschämtheit“, lässt mit Schrecken an eben die Schlachten denken, die Gramsci für den größten Schaden an der Internationale hielt. Wäre es nicht an der Zeit, eine Debatttenkultur zu entwickeln, die es den einzelnen überhaupt erst ermöglicht, ihre je anderen Auffassung und Position einzubringen, dass ein Erfahrungsprozess in Gang kommt, in dem das Kritikrecht passiv und aktiv als wesentliches Moment sozialistischer Demokratie zur Geltung kommt?

Es geht mir wesentlich um dieses, ich möchte jedoch noch hinzufügen, dass die Verwandlung eines offenen Diskussionsprozesses, in dem sich die Partei erst selbst findet, durch ein Verfahren, in dem nur mehr Änderungsanträge gelten, auch für mich äußerst befremdlich und unverständlich ist – geht es doch in diesem Zustand, in dem der Entwurf jetzt ist, wesentlich auch darum, Struktur und roten Faden, Perspektive und Wege dahin erst noch zu finden.

Mein Vorschlag ist, eine öffentliche Debatte über Diskussionskultur, die Rolle der Kritik für die sozialistische Demokratie zu führen. Ferner, um solche Entgleisungen zu verhindern, eine Zeitschrift einzurichten, in der parteiöffentlich von allen gestritten werden kann. Ist erst diese vorhanden, erübrigen sich Diskussionen, ob es klug ist, in einer Nicht-Partei-Zeitschrift interne Diskusionen zu führen, wie dies Katja getan hat.

Mit der Hoffnung, alsbald Antwort und auch weitere Schritte zu hören

Frigga Haug

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Frigga Haug (* 28. November1937) ist eine international renommierte Sozialwissenschaftlerin, deren Interesse und Forschungen insbesondere der weiblichen Vergesellschaftung und Frauenpolitik, dem Thema Arbeit und Automation sowie den sozialwissenschaftlichen Methoden, besonders in der biographieorientierten Alltagsforschung gilt.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 30.04.2011 13:55.

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