Befreiungsschlag oder nicht?

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polis
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Befreiungsschlag oder nicht?

von polis am 05.01.2012 17:11

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Befreiungsschlag oder nicht?
von polis-Gastautor Thomas Dyhr


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Thomas Dyhr

Bundespräsident Christian Wulff gab gestern das mit Spannung erwartete Fernsehinterview, in dem er zu den Vorwürfen vor zwei Journalisten Stellung nahm.

SPIEGEL ONLINE veröffentlichte Teile des Interviews im Wortlaut, andere Zeitungen, wie z.B. das Handelsblatt oder der Berliner TAGESSPIEGEL, und die TAGESSCHAU kommentierten das Interview.
Es kann nicht Aufgabe dieses Blogs sein, diese Quellen wiederzukäuen.Vielmehr möchte ich meine eigenen Gedanken zu der Affäre artikulieren.

Die ganze Affäre vermittelt mir mittlerweile den Eindruck, als ginge es hier gar nicht um grundsätzliche Fragen von Amtsführung in hohen Staatsämtern und Demokratie, sondern entwickelte sich vielmehr zu einer Art lustvollen Volksbelustigung altrömischer Art, in dem das Publikum im Colosseum den Daumen hebend oder senkend über Wohl und Wehe des geschlagenen Gladiators im höchsten Amt des Staates entscheidet.

Die Kommentare, die ich las, sind in der überwiegenden Form negativ. Und das ist weniger ein Ergebnis des abschätzigen Niederschreibens durch eine böswillige Journaille, als vielmehr Ergebnis des Umgangs mit der Affäre seitens des Bundespräsidenten, der durch sein Verhalten in der Affäre diesen scheinbar als Volksbelustigung geeigneten Showdown überhaupt zuließ.

  • Das Verhalten des früheren Ministerpräsidenten war fragwürdig und trug korruptive Züge,
  • die Verschleierungstaktik des früheren Ministerpräsidenten vor dem Landtag war schlicht eine Frechheit gegenüber dem Parlament,
  • der Umgang des Präsidenten mit ermittelnden Journalisten war zwar – da nehme ich Christian Wulff die persönliche Angefasstheit ab – errregungsbedingt unklug, aber im Lichte des Amtes betrachtet schlicht mangelhaft souverän,
  • die Salamitaktik des Präsidenten bei der Sachaufklärung war alles Andere als transparent, läßt auf ein schlechtes Gewissen schließen und...
  • ...beschädigt die Glaubwürdigkeit des Amtsinhabers.

Und genau an dieser Stelle landen wir gedanklich bei einem Themenfeld, was ich bei der Frage der Notwendigkeit eines Rücktritts oder Verbleibs im Amt für wichtig erachte.

Entscheidend ist nicht, ob Christian Wulff menschlich verzeihliche Fehler machte oder ob er sich hat Verfehlungen zuschulde kommen lassen oder nicht. Jeder Mensch macht Fehler, irrt, handelt zuweilen in der Erregung unüberlegt oder ist schlicht in der aktuellen Position am höchsten Punkt seiner Inkompetenz angelangt.

Entscheidend sind – gerade bei dem Amt des Bundespräsidenten – die sich auf die zukünftige Amtsausübung auswirkenden Fragen...

  • ... seiner Glaubwürdigkeit,
  • ...seiner Autorität,
  • —seinem Instinkt und
  • ...seiner politischen Gewichtsklasse.

Egal, was Christian Wulff zukünftig tut oder sagt oder auch lässt. Stets wird diese Affäre ihn zukünftig als vergleichender Maßstab in Bezug auf seine Amtsführung begleiten.
Es dreht sich dabei um die Frage, ob das Verhalten des Herrn Christian Wulff den Maßstäben genügte, die den Herrn Bundespräsidenten Christian Wulff angelegt werden müssen und da sehe ich nicht, wie dieser entstandene Flurschaden bereinigt werden sollte.

Ein Ministerpräsident der gegenüber einem Amtsvorgänger im Bundespräsidentenamt schwer austeilte, muss es über sich ergehen lassen, mit denselben Maßstäben gemessen zu werden. Er kann dem nicht ergehen, indem er eine angeblich heute abweichende Sichtweise (gegenüber sich selber...) mit Lerneffekten und Erfahrungsgewinn zu erklären sucht. Das wäre schlicht zu billig!

  • Ein Präsident, der eine inhaltsschwere Rede zum Thema des staatsnotwendigen Maßhaltens und Selbstbeschränkung hielte und anstelle von Nachdenklichkeit ob der Kenntnis der persönlichen Vita auf seiten des Publikums nur noch laut wieherndes Gelächter erzeugt, erzielt keine Wirkung mehr. Ob er die Rede vor einem festlichen Auditorium hält oder es fällt in Brasilien ein Sack Reis um... es hätte für die Menschen hier unter Ausblendung der humoristischen Komponente hinaus dieselbe Bedeutung.
  • Ein Präsident, der vor dem Hintergrund eigener dubioser privater Finanztransaktionen eine inhaltsschwere Ermahnung der Politik zur Redlichkeit hielte, würde bei seinem Publikum ebenfalls beachtige Belustigungseffekte auslösen.
  • Ein Präsident, der sich unter Druck stehend seine Nerven nicht im Griff hat und sich nicht beherrschen kann - derart dümmliche Fehler macht, wie das Erzeugen harter Beweismittel bei einer amtsunangemessenen Handlung wie bei der Beschimpfung des Anrufbeantworters einer Zeitungsredaktion, läßt Schlimmes befürchten auf schwierigem diplomatischen Parkett.

Dieser Präsident wäre in der Gesamtheit allenfalls noch tauglich als Karikatur und dass dieser Punkt bei Christian Wulff überschritten ist, zeigen bereits die umlaufenden Witze und Satiren.
Mittlerweile ist das "Wulffen" zu einem geflügelten Wort für das Schimpfen auf einen Anrufbeantworter geworden, dass sich zu vielerlei Spott eignet. In Radiosendern sind geradezu geniale Hörspiele mit "gewulfften" Anrufbeantworter-Sketchen im Umlauf.

Was oder wen soll dieser Amtsinhaber noch repräsentieren?

Es ist nichts mehr übrig von "Würde des Amtes" oder "politischer Gewichtsklasse". Dieser Mann ist schlicht fertig oder – wie der Amerikaner sagt – eine "lame duck".
Ich wüßte jetzt auch nicht, wie Das wiederherstellbar wäre.

Und genau Das sollte Christian Wulff dem Amt, der Bevölkerung und vor allem auch selber nicht länger antun. Deswegen bin ich ein Befürworter eines Rücktritts und nicht deswegen, weil Christian Wulf irgendwann irgendwelche Fehler machte.

Völlig ungeachtet dessen habe ich gerade erst eine interessante These des Journalisten Roland Klaus gelesen, welche die Frage des "cui bono" aufwirft.

Wem nützt es, wenn der Bundespräsident zurückträte oder zu einer "lame duck" mutierte?
Roland Klaus weist auf einen zeitlichen Zusammenhang hin, der durchaus Spuren zu möglichen Nutznießern einer Demontage des Präsidenten weist:

...Drehen wir die Zeit gut vier Monate zurück: Am 24. August 2011 hält Christian Wulff in Lindau auf einem Treffen von Nobelpreisträgern seine vielleicht bemerkenswerteste Rede als Bundespräsident. Für die meisten völlig überraschend kritisiert er den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB und die Rettungsaktionen der europäischen Politiker: "Wer heute die Folgen geplatzter Spekulationsblasen allein mit Geld und Garantien zu mildern versucht, verschiebt die Lasten zur jungen Generation und erschwert ihr die Zukunft. All diejenigen, die das propagieren, handeln nach dem Motto: Nach mir die Sintflut." Eine schallende Ohrfeige für Angela Merkel und die Riege der Befürworter von Rettungsschirmen und Transferunion. Mit schönem Gruß aus Schloss Bellevue...

...Möglicherweise war das der Zeitpunkt, zu dem in einigen politischen Zirkeln entschieden wurde, dass es notwendig sei, die Urlaubsreisen und Kreditverträge des Bundespräsidenten etwas genauer zu untersuchen und ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Denn Wulff ist eben nicht ein einfacher Bundestagsabgeordneter, der mit seinen kritischen Bemerkungen zwar Öffentlichkeitswirkung erzielt, aber letztlich an der politischen Phalanx der Rettungsschirm-Befürworter scheitert. Wulff ist das Oberhaupt eines Staates, dessen Regierung sich zum Vorkämpfer von Eurorettung und Schuldenunion gemacht hat und damit genau das tut, was Wulff in Lindau kritisiert hat: das Problem in die Zukunft zu verschieben. Und er ist vor allem derjenige, der die Ratifizierungsgesetze zum ESM unterschreiben muss, damit sie wirksam werden. Eine Aufgabe, die sich nur äußerst schwer mit seinen Äußerungen aus dem August vereinbaren lässt..."

Ich finde diese These durchaus faszinierend, nur ändert sie m.E. an dem Tatbestand Christian Wulff betreffend nichts... im Gegenteil, sie bestätigt mich sogar in meiner Meinung, dass wir uns eine Karikatur von Präsident erst recht nicht leisten können in Zeiten, wo eine Kanzlerin Angela Merkel ihre zuständige Kontrollinstanz – den deutschen Bundestag – am Nasenring durch die Arena zieht wie sie es braucht, und das verfassungsmäßige Zusammenspiel von checks and balances an allen Ecken und Enden aushebelt.
Wir brauchen einen tatkräftigen Präsidenten, der sich mit seiner Macht zur Ausfertigung/ Nichtausfertigung von Gesetzen als Gegengewicht der Bundesregierung betätigt.

Eine möglicherweise unredliche Motivation der Nutznießer an der Demontage des Präsidenten adelt nicht die Unredlichkeit seines Tuns. Genausowenig wie die Unredlichkeit des Christian Wulff als Ministerpräsident oder Mensch oder Bundespräsident nicht die Unredlichkeit des Tuns seiner Verfolger adelt.

Beide Fragen stehen gleichwertig nebeneinander, drücken aber etwas aus, was ich ausgesprochen gut und ermutigend finde: Ein funktionierendes System der staatlichen checks and belances neben einer aufmerksamen und sensiblen Bevölkerung, die eine unappetitliche Berlusconisierung unseres Staatswesens erschwert.

Wenn die gegenseitige Kontrolle egoistisch motiviert ist, funktioniert sie am Besten gegen herumwirtschaftende Vettern, die sich zu Lasten des Gemeinwesens gegenseitig die Hände waschen!

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Der Autor, Thomas Dyhr, ist Kriminalbeamter und für Bündnis90/Die Grünen im Landesverband Brandenburg aktiv und hat dort auf Kreis- und Regionalebene Vorstandsämter inne.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 05.01.2012 17:13.

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