Josef und Ilse-Maria. Eine Weihnachtsgeschichte aus der Uckermark

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Josef und Ilse-Maria. Eine Weihnachtsgeschichte aus der Uckermark

von redaktion am 22.12.2011 11:30

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Josef und Ilse-Maria. Eine Weihnachtsgeschichte aus der Uckermark
von polis-Gastautor Ulrich Kasparick


Ulrich Kasparick

Veröffentlicht am Dezember 22, 2011

Josef war polnischer Kriegsgefangener. Ilse-Maria war meine Mutter. Und die Geschichte geht so:

Als der Krieg zu Ende ging, stand die russische Armee auf der polnischen Seite der Oder und bereitete den Großangriff auf Berlin vor. Die Menschen an der Oder hatten Angst. Sie waren vollgestopft mit Geschichten, die ihnen Hitlers Propaganda in die Hirne gedrückt hatte. Geschichten von Raub, Mord und Vergewaltigung. Gruselgeschichten über „die Russen". Davon, was deutsche Soldaten in Polen, in Rußland, in der Ukraine angerichtet hatten, wurde nichts erzählt. Die Geschichten über „die Russen" hatten ihr Funktion: sie sollten die Angst schüren und den Widerstand stärken.

Es war im Jahre 1945. Meine Mutter war 23. Die einzige Tochter von Martha Dähn, geborene Engelmann, aus Gartz an der Oder. Man nannte sie Ille, eigentlich hieß sie Ilse-Maria.
Auf dem Hof der Engelmanns arbeitete Josef.
Josef war polnischer Kriegsgefangener. Er mußte wie vieler anderer gefangener Polen bei den Deutschen in der Landwirtschaft helfen.

Die Menschen an der Oder hatten schon Stettin brennen sehen. Stettin ist nicht weit weg. Meine Mutter ist dort zur Handelsschule gegangen. Swinemünde hatte gebrannt. Um die Mittagsstunde waren amerikanische und englische Bomber am hellerlichten Tag gekommen und hatten auf Bitten der Russen dieses letzte „Schlupfloch der Nazis" bombardiert, diese Hafenstadt, die damals voller Flüchtlinge und Soldaten war. Wer heutzutage auf die Insel Usedom fährt und sich den Golm anschaut, kann die Gräber finden.
In Gartz an der Oder hatten die Nazis die Brücke über die Oder gesprengt, um den Russen die Überquerung des Flusses zu erschweren.
Aber dann kamen sie doch.
Vorbereitet durch Angriffe aus der Luft und mit schwerer Artillerie setzte die russische Armee über die Oder.

„Die Russen kommen!

Meiner Mutter wurden die Haare abgeschnitten. Man steckte sie in Hose und Hemd. Sie sollte aussehen wie ein Junge, damit sich „die Russen" nicht an der jungen Frau vergriffen.
„Als die Russen kamen, hat sich Josef vor die Mädchen gestellt" hat meine Großmutter erzählt. Sie hatte immer Tränen in den Augen, wenn sie diese Geschichte erzählte. Tränen der Dankbarkeit.
Josef hat die Mädchen versteckt und beschützt, als eine Vorhut der Russen auf dem Hofe war. „Die Mädchen" – das waren meine Mutter und ihre Freundin.

„Dann mußten wir doch noch raus" erzählte meine Großmutter. Auf die Flucht Richtung Friedland. Wer noch ein Pferd hatte, spannte es vor den Wagen. Manche zogen nur noch mit einem Handwagen los. Die Flüchtlingstrecks.
Wenn man sich in der Uckermark Familiengeschichten erzählt, kann man in den Fotoalben die Bilder finden: vom Krieg, von den Flüchtlings-Trecks, von den Russen.
Was aus Josef wurde, weiß ich nicht.
Was ich weiß: meine Großmutter und meine Mutter waren Josef ein Leben lang dankbar dafür, daß er sich vor die Mädchen gestellt hat, damals, im Frühjahr 1945. Er, der polnische Gefangene, der bei den Bauern in der Landwirtschaft helfen mußte. Er, mit dessen Familie die deutschen Soldaten anders umgegangen waren....

Als es mit Solidarnosc begann, war ich in Polen Ich hatte grade das Abitur in der Tasche und war mit einem Freund auf Tramp. Wir wollten einmal durch ganz Polen. Etwa 8.000 Kilometer. Einmal rund. Mit Solidarnosc begann das Ende der Diktatur im gesamten Ostblock, damals begann es. Die Deutsche Einheit ist ohne Solidarnosc undenkbar. Deshalb haben wir Deutschen„den Polen" sehr viel zu verdanken, aber das wußten wir damals noch nicht.

Ein Mann nahm uns – es war schon Abend – mit seinem Auto mit über eine sehr lange Strecke und erzählte uns während dieser langen Fahrt, daß die Deutschen seine ganze Familie umgebracht hatten in den KZs. Es war eine sehr bedrückende Fahrt.
Dieser Mann aber brachte uns junge Deutsche auf den Campingplatz, zahlte uns ein Abendbrot, zahlte uns die Übernachtung auf dem Campingplatz und verabschiedete sich von uns mit dem Satz: „Alles bei der Freundschaft. Ihr könnt ja nichts dafür."......
Später, ich war Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, hatte ich mit „den Polen" zu verhandeln über neue Grenzübergänge. Mir war dabei immer die „Brücke von Gartz" im Kopf, jene Reste, die man heute noch sehen kann. Die Nazis hatten diese Brücke gesprengt, als „die Russen über die Oder kamen". Und nun saß ich da, am Rande einer europäischen Verkehrsministerkonferenz auf den Azoren und besprach mit dem polnischen Staatssekretärskollegen den „Ostsee-Adria-Korridor", jene europäische Verbindungsachse zwischen Nord und Süd, die – ähnlich wie am Rhein – eines Tages auch das Grenzland entlang der Oder zu einer wirtschaftlich starken Region machen wird. Wir besprachen, dass wir „nicht gegeneinander, sondern miteinander" die Verkehrsinfrastrukturen entwickeln wollten. Brücken, Grenzübergänge, Verbindungen zwischen den Menschen.

Heute bin ich Pastor in der Uckermark. Im Nachbarort Brüssow wird am 29. Dezember Bachs Weihnachtsoratorium gesungen Das Besondere an diesem Konzert: Polen und Deutsche singen gemeinsam.
In mir klingen auch diese alten Geschichten, wenn ich Bachs Musik höre.
Die Geschichte von Josef und Ilse-Maria.
Josef war polnischer Kriegsgefangener und Ilse-Maria war meine Mutter.

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Ulrich Kasparick, ev. Theologe und ehemaliger Jugendpfarrer , war langjähriger SPD-Bundestagsabgeordneter und parlamentarischer Staatssekretär im Forschungs- und Verkehrsministerium. Er arbeitet inzwischen als Schriftsteller und Publizist. Seit dem 9. Oktober 2011 ist Ulrich Kasparick Gemeindepfarrer der Evangelischen Kirche im Uckerland.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 22.12.2011 11:41.

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